Die Judas-Papiere
Judas-Schrift tatsächlich existieren sollte. »Denn wenn Ihr Bruder diese Papyri schon gefunden und hierher gebracht hat, wieso brauchen Sie dann uns, um sie wieder aufzufinden?«
»Eine gute Frage«, pflichtete Horatio Slade ihm bei. »Wie sind diese Papyri überhaupt verschwunden? Sind sie Ihrem Bruder gestohlen worden?«
Lord Pembroke gab ein kurzes grimmiges Auflachen von sich. »Die Antwort darauf ist viel grotesker! Mortimer hat in seinen Wahnvor stellungen ständig in der Angst gelebt, von irgendwelchen geheim nisvollen Dunkelmännern überfallen und um das Judas-Evangelium gebracht zu werden. Mal war von einem gewissen Abbot die Rede, dem er nicht über den Weg traute. Ein andermal hat er von einer mysteriösen Gruppe gesprochen, die sich Die Ehrenwerte Gesellschaft der Wächter nennt. Ja, er hat sogar von der Bruderschaft der Illumina ten und auch von einem gewissen Caine gefaselt, die ihm auf den Fersen seien und notfalls auch über Leichen gehen würden, um in den Besitz des Evangeliums zu kommen. Wieder ein anderes Mal hat er einen Schwall wüster Verwünschungen ausgestoßen, die einem Mann namens Marthon oder Martikon galten. Was davon auf wahn hafter Einbildung beruhte und was einen realen Hintergrund hatte, weiß ich nicht zu beurteilen. Ich jedenfalls bin noch keinem von die sen Leuten begegnet oder habe von ihnen gehört, mal abgesehen von jenem Orden der Illuminaten.«
»Viel Feind, viel Ehr«, spottete Alistair McLean. »Wenn man so viele gegen sich hat, kann man schon mal unter die Räder kommen – oder in ein Messer oder eine Kugel laufen!«
»Aber nein, auf diese Weise ist das Judas-Evangelium nicht ver schwunden. Mein Bruder ist weder überfallen und ausgeraubt noch von einem dieser eingebildeten Dunkelmänner ermordet worden«, fuhr Lord Pembroke fort. »Vielmehr hat er selbst dafür gesorgt, dass die Papyri des Judas nicht mehr aufzufinden sind – zumindest nicht, ohne vorher seine rätselhaften Hinweise auf das Versteck entschlüs selt zu haben, diese verfluchten Rätsel eines geistig Umnachteten.«
»Aber so schwer sollte es doch nicht sein, jenen geheimen Ort zu finden, wenn Ihr Bruder die Schrift hier irgendwo in der Umgebung versteckt hat«, wandte Alistair McLean ein.
»Ich habe nicht davon gesprochen, dass mein Bruder das Judas-Evangelium irgendwo hier versteckt hat«, erwiderte Lord Pembroke etwas ungehalten, weil Alistair McLean offenbar nicht aufmerksam zugehört hatte. »Denn sonst wären Sie gewiss nicht hier, bräuchten keinen Kreditbrief für Banken auf dem Kontinent und hätten sicher lich auch keine Aussicht, sich 5000 Pfund zu verdienen.« Er nahm ei nen kräftigen Schluck Rotwein, bevor er fortfuhr: »Ich werde Ihnen sagen, was Mortimer in seinem Wahn getan hat: Er ist von heute auf morgen zu einer überstürzten und geheimen Reise aufgebrochen, von der er erst gute sieben Wochen später, in den ersten Januarta gen des vergangenen Jahres und gerade mal zehn Tage vor seinem Freitod, wieder zurückgekommen ist. In diesen Wochen der Reise hat er sich auf dem Kontinent herumgetrieben und schließlich das Judas-Evangelium an irgendeinem gottverlassenen Ort versteckt.«
»Und Sie haben keinen Verdacht, wo in etwa dieses Versteck sein könnte?«, fragte Horatio Slade bestürzt.
Lord Pembroke schüttelte den Kopf. »Nein, das Versteck kann sich ebenso gut in Kairo wie in Moskau, in Amsterdam wie in Athen befin den – oder in Wien. Denn Wien war sowohl die erste als auch die letzte Station seiner irrwitzigen Reise. Das sind auch die beiden ein zigen Stationen seiner Route, von denen ich definitiv Kenntnis ha be – und zwar von Mortimer persönlich.«
Alistair McLean stöhnte auf. »Heiliger Strohsack! Wie sollen dann ausgerechnet wir das Versteck finden, wenn es ebenso gut in Russ land wie in Ägypten oder in Griechenland liegen kann?«
Horatio Slade nickte mit düsterer Miene. »Dagegen ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen ja das reinste Kinderspiel!«
»Nun, es gibt schon gewisse Hinweise auf das Versteck, die ein Auffinden möglich machen, sofern man sie erkannt hat und sich auf die Kunst der Kryptologie versteht, also geheime Codes entschlüsseln kann«, erwiderte Lord Pembroke. »Zwei Tage vor seinem Freitod hat Mortimer mir nämlich in einem Moment halbwegs klaren Bewusstseins anvertraut, dass nur derjenige, der sein Hexagon entschlüsselt, den Weg zum Versteck des Judas-Evangeliums findet!«
Alistair McLean runzelte die Stirn. »Hexawas? Hat das was mit
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