Die Judas-Variante - V3
morgen ist die Nacht der Nächte.«
Früher am Tag, wie an jedem Tag seiner Gefangenschaft, hatte Caine ein Trainingsprogramm
absolviert, das aus einigen Katas - die stilisierte Form eines Kampfs gegen mehrere imaginäre
Gegner nach genau festgelegten Bewegungsabläufen - bestand, die er bei der
Widerstands-Kampfausbildung auf der Erde gelernt hatte. Obwohl die Übungen nicht spektakulär
waren, waren sie doch ziemlich schweißtreibend gewesen, und er hatte sich hinterher in der
transparenten Duschkabine unter die Brause gestellt.
Doch anders als in den vergangenen Tagen, als er sich nach dem Duschen abgetrocknet und das nasse
Handtuch schwungvoll über der Kante der Duschkabine drapiert hatte, warf er es diesmal so, dass
es die Sicht der dort verborgenen Spionagekamera blockierte.
Und das war die Ouvertüre zum Spiel. Am liebsten hätte er auch noch die Kamera im Bettpfosten
deaktiviert, doch die Sicherheit hatte sich letzte Nacht hier reingeschlichen und diese Kamera in
seinem Sinne wieder funktionsfähig gemacht; deshalb durfte er das Papier auf der Linse nicht
schon wieder abziehen, ohne sie mit der Nase daraufzustoßen, dass er das Spiel durchschaut
hatte.
Außerdem befand die Duschen-Kamera sich, vom Bett aus gesehen, schräg gegenüber auf der anderen
Seite des Raums. Also wären sie vielleicht nicht ganz so vorsichtig, wenn sie heute Nacht
hereinkamen, um sie wieder freizumachen.
Doch Vorsicht hin oder her, die Würfel waren gefallen und rollten nun über den Boden. Er hatte
die Parameter seines Gefängnisses ermittelt, er hatte die Fluchtmethode geplant - und er hatte
die Werkzeuge, um sie durchzuführen.
Alles, was er jetzt noch brauchte, war jemand, der ihm die Zellentür aufschloss.
Er ging an diesem Abend früh zu Bett und nahm das Manuskript mit. Damit wollte er vortäuschen,
dass es für ihn bequemer sei, das Buch im Bett zu lesen als im Sessel. Den Sessel hatte er
bereits unauffällig zu der Stelle geschoben, wo er ihn brauchen würde: Er stand genau zwischen
ihm und der blockierten Duschen-Kamera. Das allein müsste schon jeden Verdacht zerstreuen; ein
potenzieller Flüchtling wäre bestimmt nicht so dumm, absichtlich ein großes Hindernis zwischen
sich und dem ersten Feind zu platzieren, den er außer Gefecht setzen müsste.
Als man ihm das Licht ausschaltete, war er bereit.
Er hatte sich, mit dem orangefarbenen Overall und den Slippern bekleidet, unter der dünnen Decke
auf der mit Styropor-Kügelchen gefüllten Matratze ausgestreckt. Nun ließ er die Hand herabfallen
und hob unauffällig Blatt um Blatt Papier vom Manuskript ab, das neben seinem Kopf aufgestapelt
war.
Ob er gewann, verlor oder starb - heute Nacht war die Nacht der Nächte.
13
Poirot hatte gesagt, dass der Gefangenentransport um neunzehn Uhr aufbrechen würde. Wie sich
herausstellte, verließen die sechs Transporter Athena schon eine halbe Stunde früher durch das
Haupttor.
Aber das tat der Sache keinen Abbruch. Skyler hatte sowieso mit einem solchen Manöver
gerechnet.
Der Konvoi ist raus, übertrug sein Pocher Flynns speziell verstärkte Nachricht aus dem
leer stehenden Hochhaus-Apartment direkt nördlich von Athena, wo er und andere das Tor
beobachteten. Sechs Busse; ein Pkw vorne, ein Pkw hinten.
Verstanden , signalisierte Skyler zurück. Das war eine erstaunlich schwache Eskorte, auch
wenn man berücksichtigte, dass die Transporter mit Sicherheitsleuten besetzt waren. General
Poirot wollte offensichtlich den Anschein erwecken, als ob er ein Arrangement zu Gunsten der
Angreifer getroffen hätte; genau so, wie er es angekündigt hatte. Route?
Primär.
Das war im Klartext die direkte Route, die ein Konvoi nach Colorado Springs nehmen würde, und
somit auch die Route, an der potenzielle Angreifer ihre Kräfte konzentrieren würden.
Zu Poirots Pech hatten die Männer, die Reger an den wahrscheinlichsten Strecken positioniert
hatte, die Sicherheitsfahrzeuge aber schon gemeldet, die im Lauf des Tages an ebendieser
Primärroute unauffällig Position bezogen hatten. Wie Anne es prophezeit und wie O'Hara es schon
im Urin gehabt hatte: Poirot hatte ihnen wirklich eine Lampe gebaut.
Doch selbst wenn er besonders schlau sein wollte, war der Feind noch immer höchst berechenbar.
Skyler konnte nur hoffen, dass sein eigener Plan nicht genauso durchsichtig war. Luft-Aktivitäten?
Funkverkehr Indiz für sechs Späher, alle außer Sichtweite.
Verstanden, erwiderte
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