Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
Die Demokratie kann nur bestehen, wenn ein hohes Maß an sozialem Zusammenhalt herrscht. Ohne diesen beginnen Gesellschaften in Diktaturen abzugleiten. So kam es, dass der italienische Ministerpräsident immer größere Rechte einforderte, die das Parlament durchwinkte. Letzteres existierte ohnehin nur noch auf dem Papier. Viele Parlamentarier waren bereits aus Rom geflohen, wegen des skurrilen (aber angeblich unbegründeten) Gerüchts, wonach das Fischvirus Menschen infizieren könne. So wurden die Hügel der Toskana zum Zufluchtsort für Mätressen. Die, die ihre Beine breit machten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, traten jetzt Gerüchte breit.
Der Zerfall der Gesellschaft wiederholte sich auf der ganzen Welt, und zwar oft noch ungestümer. Alle Länder schlossen ihre Grenzen, um den Zustrom jener Flüchtlinge zu verhindern, die vor den Auswirkungen der Hungersnot in ihrer Heimat zu fliehen versuchten. Im Fernen und Mittleren Osten trieb der Mangel an Nahrungsmitteln und Wasser die Menschen zu barbarischen Handlungen, die man seit Hunderten von Jahren nicht mehr erlebt hatte. Wie im Mittelalter riefen Städte und Dörfer den Belagerungszustand aus. Kein Fremder wurde hereingelassen – wobei als »Fremde« auch Menschen aus benachbarten Städten und Dörfern galten. Geschäfte? Es gab keine, sie waren schon längst ausgeräumt worden. Banken? Es gab keine, sie waren ausgeraubt worden. Tankstellen? Geplündert. Pkws, Lkws, Busse? Alle privaten und öffentlichen Transportmittel waren in der Regel von der Polizei, dem Militär oder von bewaffneten Milizen requiriert und viele davon zerstört worden.
Den Inseln erging es am schlechtesten. In einem frühen Stadium der Pandemie hatte Japan seine Grenzen geschlossen. Nur wenige Schiffe versuchten von China oder Korea nach Japan zu fahren, weil die See von sterbenden Meerestieren verstopft war. Wer es trotzdem wagte, wurden von der japanischen Marine zurück aufs offene Meer geschickt. Flugzeugen ohne offizielle Autorisierung wurde die Landeerlaubnis verweigert. Japan hatte größte Mühe, seine Bevölkerung zu ernähren, und deshalb keine Lust, Ausländer ins Land zu lassen. Sollten sich doch andere um die Leute kümmern! Was die pazifischen Inseln betraf, lagen die Dinge etwas anders. Die Bewohner versuchten, sie zu verlassen – nicht auf sie zu flüchten, weil ihnen Wasser und Lebensmittel ausgegangen waren und sie en masse starben. Fast keiner schaffte es, durch die verschmutzten Meere aufs Festland zu gelangen. In Ländern wie Australien und Neuseeland wurde ein tödlicher Kampf ausgefochten, um die Scharen illegaler Einwanderer an der Grenze abzuweisen. Zunächst wurden die Flüchtlinge interniert, dann, als die Lage ernster wurde, zur Rückkehr in ihren Booten gezwungen. Schließlich erhielt das Militär die Erlaubnis, gezielt zu feuern.
»Das gehört
mir
. Ich habe nichts zu geben.«
So lauteten die Rufe – die Losungen – einer bedrängten Menschheit. Die Endzeit der menschlichen und spirituellen Auflösung begann, dirigiert von einer unsichtbaren Hand. Weltweit herrschte unter den Menschen ein Gefühl der Ungläubigkeit. Wie hatte alles so weit – und zwar so schnell – kommen können? Monate zuvor war es allen noch gutgegangen. Gesetz und Ordnung, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit – das waren die unverbrüchlichen Säulen, auf denen die Zivilisation gründete. Jetzt drohte das Haus der Menschheit einzustürzen. Warum? Alle gaben den Politikern die Schuld, dem Regierungssystem, Gott – was auch immer und wem auch immer. Doch die Klügeren erkannten, dass individuelle Gier und Selbstsucht die Welt an den Rand des Abgrunds geführt hatten. Jeder Mensch muss ein bestimmtes Maß an Verantwortung übernehmen, bis auf die ganz Jungen. Doch Verantwortung zu übernehmen und etwas zu
tun
, das war zweierlei, und wenige waren, selbst in den letzten Tagen, bereit, der Allgemeinheit zu helfen. Stattdessen kümmerten sich Familien und Einzelpersonen nur um sich. »Ich bin selbst allein«, so lautete die geheime Schlussfolgerung, zu der man in den meisten Herzen gelangte.
Die Gesellschaft begann zu sterben.
Für Martinelli verstärkte sich der Stress, ein zusammenbrechendes Land zu regieren, noch dadurch, dass auch er eine Lüge lebte. Er belog sein Land und das italienische Volk. Sie alle konnten sterben.
Die gesamte Menschheit konnte sterben.
Trotzdem weigerte er sich standhaft, daran zu glauben. Er wollte es einfach nicht einsehen.
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