Die Juden von Zirndorf
fast greifbar der Entschluß zu einem Verbrechen zu lesen war; ein Weib, das kichernd, sich drehend, mit erlogenem Lächeln, mit erstohlener Anmut, von einem Chor befrackter Bettler bezaubernd genannt wurde; ein zweites, das mit allen Kräften heimisch zu werden suchte in diesem Haus zusammengetragener Lustbarkeit; ein drittes, das mit geheimer Angst die Maskengarderobe aus dem Gewölbe des Verleihers einer öfteren Musterung unterzog und heftige Bewegungen zu vermeiden suchte; ein viertes, das mit erhitzten Blicken und eisiger Seele dasaß, während die Sorge um die Haltbarkeit der Schminke sie im Innern beschäftigte. Und hinter der Buntheit der Gewänder, der Höflichkeit der Worte, hinter den ziehenden Blicken, den vom Wein geröteten Stirnen und benetzten Lippen, was lag da? Agathon sah es. Hundert Schicksale öffneten sich ihm wie auf einen Schlag; auf einen Schlag wurde der Vorhang von hundert Bühnen, von hundert Augenpaaren gezogen, daß es vor seinen Blicken dalag wie ein schwärender Knäuel Jammer, ein ungesichtet zusammengeworfener Haufen Schmerzen, ein Mischmasch von Betrübnissen, Verbrechen, Betrug und Lügen. Jener dicke Herr mit dem gütigen, ehrenhaften Gesicht hält das Glück von Hunderten wie an einer Schnur, und er wird all dies Glück, das ihm anvertraut ist, morgen getrost an der Börse verspielen; den ungünstigen Fall erwägend, hat er bereits eine Schiffskarte bei sich. Dieser unwiderstehliche Stutzer, der so diskret lächelt, ist ein Arzt, der durch schmutzige Geschäfte in seiner eigenen Meinung längst der Schatten eines anständigen Menschen ist. Jene bleiche Dame mit dem schwermütigen Blick lebt nur, sich zu amüsieren, und es amüsiert sie, die Schwermütige zu sein; ihr Haus ist ein finsteres Bild der Verkommenheit, der Vernachlässigung, der Sittenlosigkeit, des geraubten, erborgten Prunkes, des versteckten Hungers; jener wohlwollende Graubart ist ein unentdeckter Bankdieb; jene pastorenhafte Gestalt schachert mit jungen Mädchen; jener imposante Schwarzbärtige ist ein nichtswürdiger Wucherer; jener behäbige und joviale Greis ist ein gefürchteter Verläumder ... Und hinter ihnen, welch ein Chaos: verödete Stuben, tränennasse Betten, von Lastern besteckte Hände, das wahnsinnige Geheul Unterliegender und Gefesselter, das verschwiegene Lächeln der Sieger, die erheuchelte Trauer, der verstellte Hochmut, der Hunger, die Schande, die Raserei der Liebe, Krankheit und Tod, eine Armee bis zur Tollheit verzerrter Gesichter, die im Geschwindmarsch dem Abgrund zueilten, eine ganze fallende, stürzende, vermorschte Gesellschaft und darüber, darunter – nichts.
Es war Agathon, als ob sein Körper durch die zermalmende Wucht der Visionen zusammengepreßt würde. Es war ihm, als dränge sich die gärende Masse des Unglücks, ein schreiender Haufen Verfolgter an ihn, erflehe Hilfe, Rettung, und gepeinigt floh er, erreichte die Straße, eilte weiter, ohne sich umzublicken und wußte kaum, wie er in Jeanettens Wohnung kam. Er hatte sie selbst, seit beide den Saal betreten hatten, nicht wieder gesehen. Das Dienstmädchen öffnete ihm, wollte Licht machen, aber er bat sie, ihn im Finstern zu lassen, fiel wie vernichtet aufs Sofa und krampfte sich zusammen wie ein Sterbender.
Lange mochte er so gelegen sein, als er einen Hauch an seiner Stirn verspürte. Er schlug die Augen auf; die Nacht kam ihm doppelt finster vor. Hierauf bemerkte er einen schwarzen Schatten, der sich nah an seinem Körper gegen das unsicher verfließende Licht des Fensters abhob. Erschrocken tastete er mit den Händen vor sich und tastete in knisterndes Haar. »Jeanette,« flüsterte er dumpf. Sie kniete bei ihm. Er glaubte, ihre Augen flammen zu sehen; es entstand eine Hitze um ihn, die aus diesen Augen zu kommen schien. Er wurde starr am Körper und seine Sinne badeten sich in einer Erregung, die seine Brust zusammenschnürte gleich einem Strick. »Jeanette,« flüsterte er, »sie brauchen doch einen Heiland.«
Jeanette zündete eine Kerze an und legte eine blutrote Orange neben den Leuchter. Ihr Gesicht war um vieles bleicher als sonst, aber von zitterndem Leben erfüllt. Sie stand an der mit purpurfarbenem Tuch verhangenen Wand und das meergrüne Kleid, das sie trug, warf Strahlen gegen diese dunkle Farbe. Ihr Hals, entblößt, leuchtete im Rahmen der Haare, und ihre Brust hob sich schwer. Einer warmen Welle gleich lief es von ihr zu Agathon. Er saß und blickte sie unverwandt an und glaubte, eine Stimme zu hören,
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