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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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eigentlich in dir?« fuhr sie unvermittelt fort. »Ich kenne keinen von den Leuten, bei denen du aufgewachsen bist, der mit dir zu vergleichen wäre. Und auch sonst –«. Sie stand auf, stellte sich hinter seinen Stuhl, legte beide Hände auf seine Schultern, so daß er den Kopf zurückbog, um sie zu sehen, und sie fragte lächelnd, indem sie ihre Augen tief in die seinen bohrte: »Hast du die Kirche in Brand gesteckt, Agathon?«
    Agathon machte sich los und entgegnete, ebenfalls lächelnd: »Wolltest du, daß ich es getan hätte?«
    Sie schwieg finster. »Es ist wahrscheinlich, daß es der Blitz getan hat,« sagte sie dann mit einem seltsam boshaften Ausdruck. Sie standen sich eine Weile stumm gegenüber, endlich meinte sie spöttisch lächelnd: »Aber du mußt andere Kleider bekommen, trotz alledem. Bist du zornig?« fügte sie erschrocken und demütig hinzu, als sie die Röte auf seiner Stirn gewahrte. »Oder kränkt dich der Tag so wie mich? Dann werde ich die Türen zusperren, meine Dienstboten fortschicken, die Rollläden schließen und Nacht sein lassen.« Alles dies sagte sie fast kühl, hinwerfend. Agathon konnte nicht klug aus ihr werden.
    »Daß wir beide Juden sein müssen!« rief sie aus, als sie sich in einen Winkel gesetzt hatte. »Ich fühle das ganze Alter des Judentums auf meinen Schultern und alle seine Verbrechen, alle seine Leiden. Ich habe alle seine Fehler in mir; ich bin der pure Verstand und die pure Schwäche. Ich bin grüblerisch und scheu, feig und frech, ich liebe die Nacht und das Orgelspiel und bin gern geistreich, wie du siehst. Und du, was bist du eigentlich? Wie kommst du zu uns mit deiner reinen Stirn?«
    Plötzlich ging sie, nahm Agathons Kopf zwischen beide Hände, zog ihn mit einem gewaltsamen Ruck herab und küßte ihn auf die Lippen. Fast zugleich aber ließ sie ihn wieder los und starrte ihn an, bleich, mit weiten Augen. » Diese Lippen!« flüsterte sie bewegt. »Du hast noch nie ein Weib geküßt?« Langsam ergriff sie seine Hand, beugte sich und küßte auch sie. Agathon dachte an Monika, die einst ein gleiches getan. Warum?
    »Was bist du? Was willst du?« fragte sie ihn nach einem langen Schweigen.
    »Was ich will, das ist zu schwer für Worte. Was ich will ... Den Menschen den Himmel nehmen und ihnen die Erde geben, Jeanette, das ist es, was ich will. Freilich, viele haben schon die Erde, aber nur die Erde ohne den Himmel, sie wissen, daß der Himmel fehlt. Verstehst du? Sie müssen die reine Erde haben, ohne Kreuz, ohne Abfall, ohne Verzicht, ohne Abrechnung mit einem Droben. Sie haben bloß Genüsse und Schmerzen. Aber es ist wie mit dem Vogel im Käfig. Er hat keine Freude, auch beim schönsten Futter nicht und wenn es der bequemste, vergoldetste, mildeste Käfig von der Welt ist. So ist der Himmel ein Käfig für die Menschheit geworden. Und so lange schon, daß sie gar nicht mehr das Gitter gewahren und meinen, sie könnten fliegen. Aber solange ein einziges Gebet auf der Welt ist, können sie nicht fliegen. Ich will die Stäbe zerbrechen, Jeanette, oder nur einen, ein anderer nach mir zerbricht vielleicht mehr. Und wenn auch dann das Dach herunterstürzen und viele zermalmen wird, das schadet nichts. Nur die Großen, die Unterdrücker werden dann zermalmt, Simson der Täter und die Philister werden zermalmt, aber die Gefangenen werden frei und werden ein neues Geschlecht gründen. Freude wird sein.«
    Sein bleiches Gesicht spiegelte sich strahlend in den Bewegungen der Seele. Jeanette sah ihn an und vergaß seine Jugend, wie alle, die mit ihm sprachen. Ein reiner Strom umfloß sie, der Strom reiner Gefühle. »Und was willst du tun für diese Idee?« fragte sie, mühsam lächelnd. »Sterben natürlich, wie alle diese Schwärmer.«
    »Sterben? Nein, leben.«
    Ihre Augen trafen sich. Agathon wandte sich ab vor ihrem Blick.
    »Schwärmer! Schwärmer! Gütiger Himmel, wohin träumst du? Aber ich liebe dich, Agathon, ich liebe dich seltsam. Und was denkst du dir unter dieser ›Freude‹ da? Auch so ein Wort, wie viele Worte. Nicht?«
    »Es müßte ein Glanz sein, der von einem zum andern strahlt. Man dürfte nichts mehr verehren, nicht mehr die Natur, weil man selbst die Natur, selbst ein Stück Wald, ein Stück Meer ist, der Lehrer müßte Freund sein und vieles andere. Alles ohne Trunkenheit, verstehst du, Jeanette, ohne Gelehrsamkeit, jedes Ding eine Welt und die Welt ein Ding. Alle Juden müßten ausgerottet werden, nicht der Körper, aber der Geist, denn aller

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