Die Juden von Zirndorf
wo noch die Lichter brannten. Erstickte, gequälte Rufe, wilde Schreie, leidenschaftliche Gebete, schmerzliches Stöhnen drangen heraus. Naar ging versonnen seinen Weg weiter, hinaus gegen Westen, wo die Häuser bald im Morgendunst verschwanden. Der hagere Mann mit seinem spitzen, dütenförmigen Hut, der nach der Vorschrift jener Zeit orangegelb mit weißem Rand war, schritt unter den tiefhängenden Ästen der Bäume dahin und die braungewordenen Blätter gerieten in leise Bewegung, wenn der Judenhut sie streifte. Zacharias Naar ließ sich unter einem Apfelbaum nieder und starrte ins Morgenrot. Die Ebene schien sich zu recken und zu dehnen, und der Schlaf flog auf von ihr in Gestalt der Raben und Krähen. Der Wanderer zog eine schwarze Tafel und einen Stift aus dem Gewand und mit träumerisch zaudernden Fingern formte er Buchstaben und Worte immer bestimmter und rascher. »Mein Mund ist schwer wie der Mund eines Mörders. Mein Geist schreit nach dir. Der blasse Morgen drückt deine zitternden Lider zu, da du kommst. Du liegst schon schlafen, und ich küsse im grünlichen Schein der Nachtwende dein Gewand. Kraft, Kühnheit, Stolz und Genugtuung sind nichts mehr vor dir. Soll ich lächelnd an den kommenden Morgen denken, wenn du enteilst? Die Liebe schreitet jauchzend der Finsternis zu und verachtet den Regentag. Was ist im Himmel und auf Erden, außer der Liebe, Leib der Leiber und Schoß aller Schoße! Die heimliche Glut der Erdbrust wohnt in dir. Ich gehe durch die Dämmerung, wo die Wetter schlummern, in die jahrlose Einsamkeit der großen Ewigkeiten hinab. Ich gehe, Gott zu suchen.« Hastig fuhr der Stift wieder über das Geschriebene und machte es unleserlich. Dann wischte Naar alles mit feuchten Gräsern wieder weg und schaute bitteren Mundes hinaus ins Land, über dem die Sonne kam. Zum zweitenmal nahm er den Stift und schrieb bedächtig, bei jedem Zug den Stift gleichsam in die Tafel eingrabend: »Ist ein Gott in diesem leeren All? Ich will ihm schreien, ich will ihm die Glut meiner Seele opfern. Ist ein Gott, daß er die Unbill räche, die Kränkung des Stolzes, daß er den Höfling demütige? Ist ein barmherziger Vater, der das Feuer stillt, wenn es des Armen Dach beleckt? Der den Schläfer auf nackter Erde bewahrt, dem frierenden Hund eine Hütte gibt? Ich rufe dich, Ewiger und deine Welten verneinen dich, deine Sonnen verleugnen dich. Ich suchte dich und nirgends fand ich dich. Die Himmel sind echolos, wenn ich dich rufe, schweigend starren die Wälder. Allein bin ich gegangen im Angesicht der Nacht und die Dunkelheit war mein Mantel und meines Kummers Kleid; breit ist das Meer und tief, und maßlos dehnen sich die Himmel, aber du bist nicht. Jahrtausende verschwinden wie ein Lächeln und wer gut ist verdirbt und die Falschen und Treulosen werden zu Propheten. Aber laß es laufen, das Volk, laß es springen zu den Kammern des Todes. Wo bist du Gott? Bist du, wo das Jahr zeitlos ist, und die Unendlichkeiten zusammenschrumpfen wie Leichname? Bist du, wo die Sonne aus dem Westen steigt und der Mond aus Brunnen strahlt? Bist du beim Gastmahl der Toten und hast du den neuen Morgen der Welten verschlafen? Ach wo lauf ich hin? Der Himmel ist nur in mir. Wo ist Raum für meine Seele?«
Als er fertig war, zerschmetterte Zacharias Naar die Tafel am Baumstamm und streute die Trümmer in alle Winde. Dann erhob er sich und ging den Häusern zu.
Im Schindelhof begegnete ihm ein Zug jüdischer Männer und Frauen mit Kerzen in den Händen. Vier Jungfrauen trugen einen Purpurbaldachin, unter dem ein Knabe und ein Mädchen trippelten, beide noch Kinder. Sie sollten einander vermählt werden, denn es war der Glaube jener Zeit, dadurch den Rest der noch ungeborenen Seelen in die Leiblichkeit eingehen zu lassen und so das letzte Hindernis zum Eintreffen des Gottesreiches zu beseitigen. Die Kinder, deren Namen Benjamin und Eva waren, hielten sich fest an den Händen, und ihre Augen standen voll Tränen; wenn sie sich einander anschauten, so geschah es gleichzeitig, und sie lächelten dabei schwermütig wie Menschen, denen eine Strafe bevorsteht, der sie nicht entrinnen können und die sie auch nicht verdient haben. Plötzlich bedeckte sich Evas Gesicht mit einer glühenden Röte. Die schwarze Noemi kam mit ihrer Freundin nackt die Gasse heruntergelaufen und trotz der frischen Herbstmorgenluft schienen ihre Körper heiß zu sein von Tanz und Ausschweifungen. Schier besinnungslos, doch graziös wie Gazellen liefen sie dahin
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