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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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verflüchtigte sich im Dunst, der in der Ferne über dem Wasserspiegel lag. Mit vorgestrecktem Hals starrte Agathon hin und atmete tief auf, da er nichts weiter sah als die glatte Fläche und kein Geräusch vernahm als das klagende Glucksen des Wassers.
    Als es zu dämmern anfing, wurde ein Ruderschlag hörbar. Elkan Geyer kam. Agathon zögerte nicht mehr und ließ sich ins Boot hinab. Sie fuhren heim auf der stillen Fläche, über die es langsam hindunkelte, und sprachen kein Wort miteinander. Die Krähen flogen ums Boot, lautlos und geängstigt, und bisweilen war das Wasser von einer Schicht gelber Blätter bedeckt. Die Röte am westlichen Himmel glich einer schmalen Schleife und wurde zusehends trüber und einige Wolken lagerten dort, die sensenschwingenden Männern glichen. Am Kirchhof landeten die beiden, schritten die kotige Straße des Dorfes hinauf und traten in ein kleines, grüngestrichenes Haus, das dem Verfall keinen Widerstand mehr bot und in jeder Stunde zusammenzubrechen schien. Das Dach drückte schwer auf Giebel und Mauern, und die unregelmäßigen Fenster glichen schielenden Augen. Elkan Geyer schritt durch einen finstern Gang mit brüchigen Ziegelsteinfließen, an vielen Türen vorbei in die Kammer, wo Obstvorräte und Spezereien für den Kramladen aufgestapelt lagen. Eine sonderbare Mischung von Gerüchen herrschte: es roch nach frischen Äpfeln und alten Stoffen, nach schlechter Schokolade, nach eingemachten Früchten, nach Essig und Konserven, nach geräuchertem Fleisch und Kaffee. Dazu lag feiner Mehlstaub in der Luft, und dunkelgrünes Tuch war über große Kasten gebreitet.
    Agathon war seinem Vater gefolgt, der den Kerzenstumpf anzündete und bekümmert in das dürftige Flämmchen schaute. Mit seiner müden Stimme begann er zu reden: daß ihm wohl sein Ältester das Leben leichter machen könne, als er es täte, und wie er, Agathon, sich eigentlich die Zukunft vorstelle? Daran läge jetzt alles, mehr als alles; es sei bitter ernst und er, Elkan, werde jetzt alt und es werde ihm schon schwer, das viele Schulgeld aufzubringen. Auch dürfe er sich nicht schlecht benehmen gegen Sürich Sperling, denn er, Elkan, sei tief verschuldet bei diesem Mann, so daß er sich keinen Rat mehr wisse. Niemand wolle helfen, auch nicht Enoch Pohl, der es doch wahrscheinlich vermöchte. Elkan Geyer sagte mehr, als er beabsichtigte; er sah endlich, wie Agathons Glieder zitterten, vielleicht nicht nur der nassen Kleider wegen. Schnell gebot er ihm, sich umzukleiden, aber er solle es so anstellen, daß die Mutter nichts merke.
    Gedankenvoll ging Elkan hinaus in den kleinen Hof, der zwischen Haus und Gemüsegarten lag, und trotzdem es schon ziemlich dunkel war, traf er seinen Schwiegervater noch bei der Arbeit. Enoch Pohl war zweiundachtzig Jahre alt, aber er übte noch immer sein Handwerk als Seiler aus. Er wanderte noch täglich den langen Weg nach Fürth, doch zu keiner Zeit hatte er eine Nacht unter fremdem Dach geschlafen, niemals hatte er für länger als zehn Stunden das Dorf verlassen. Er kannte keine Sehnsucht als die nach dem Gold, und Gefühlen anderer Art war er verschlossen. Die Welt, in der er lebte, veraltete ihm nicht, und er dachte auch nicht an den Tod. Er war fromm, d.h. er ging allmorgendlich und allabendlich zum Gottesdienst, um das Gebetstuch, das er seit neunundsechzig Jahren um die Schultern legte, von neuem zu küssen und das halbzerfetzte Buch mit den braungewordenen Blättern von neuem aufzuschlagen.
    Einige Sterne zuckten unter schnellen Wolken auf. Die Luft war satt von Feuchtigkeit und hatte etwas Durchdringendes. Das Laub des wilden Weins war blutrot und leuchtete durch die Dunkelheit. Von der »gläsernen Burg« herüber schallte das Geschrei der Zecher, und einer sang mit simpler Geduld und in flennenden Tönen immerfort dieselbe Melodie: spinn' spinne Töchterlein. Die Abendglocken begannen zu läuten; bald klang es fern, bald klang es nah.
    Enoch Pohl hatte eine kleine, verrostete und verbogene Laterne angezündet, holte eine Wanne herbei, die mit Schafsdärmen angefüllt war und bedeckte sie mit einem tellerartigen Holzsturz, den er zur Beendigung seines Tagewerks mit Fugen für die Henkel des Bottichs versehen hatte.
    »Nun, Vater,« flüsterte Elkan Geyer und sah ängstlich auf die Hände des Alten, die mit braunen Flecken und langen Haaren bedeckt waren.
    Enoch schwieg.
    »Und wenns Jette erfährt?« murmelte Elkan. »Schließlich ist sie doch dein Kind.«
    »Sie waaß ja nix,«

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