Die Juden von Zirndorf
sähe er den Wasserspiegel in der Ferne oder spüre den feuchten Hauch der Flut. Sein Herz wurde eng.
Er folgte Agathon, denn der Gedanke an ihn bedrückte seine Sinne. Er öffnete eine Tür des finstern Flurs und kam in eine kalte, kahle Kammer, wo auf einem hochbeinigen Holztisch eine Kerze stand. Agathon war über ein dickes Buch gekrümmt, die Finger in den Haaren verwühlt. Es war das Neue Testament. Kaum hatte Elkan das Buch angesehen, als er es mit einer wütenden Bewegung packte, es unter den Armen Agathons hervorzerrte, die einzelnen Blätter zerfetzte und den Band in eine Ecke warf. »Das tust du! Das tust du mir!« flüsterte er atemlos. Agathon schwieg, wandte die Augen nicht von denen seines Vaters und veränderte nicht seine kauernde Stellung. Elkan empfand plötzlich eine unerklärliche Furcht vor ihm, setzte sich auf den Bettrand und fragte schüchtern: »Was hat er mit dir gemacht der Sürich?«
Agathons Augen funkelten. Er schüttelte den Kopf und sah begierig in den schmalen Spiegel an der Wand, als ob er jede Veränderung seines Gesichts studieren wolle.
»Kannst du's nicht sagen? Deinem Vater?«
»Nein.«
»Ja, aber –!«
»Nein. Warum hast du denn das Buch zerrissen?«
»Weil es Sünde ist, es zu lesen, Sünde gegen den Gott Israels. Woher hast dus?«
»Sünde? Was Millionen gläubig wissen, kann doch nicht für irgend einen Sünde sein. Du sagst, Israel ist Gottes Lieblingsvolk? Er beschützt es vor allen andern?«
»Ja.«
»Das ist Unsinn und Lüge.«
»Agathon!«
»Ja! Alle Völker hassen uns und ich glaube, Gott haßt uns ebenfalls.«
»Was für Reden!«
»Wir haben Jesus gekreuzigt und –«
»Wir –! nicht wir Agathon.«
»– aber wenn wir es nicht getan hätten, wäre er nicht Jesus Christus. Sie haben uns also Jesus Christus zu verdanken.«
»Natürlich.«
»Trotzdem fluchen sie uns,« fuhr Agathon fort, »und wir haben kein Vaterland.«
»Warum nicht? Hier ist unser Vaterland! Deutschland! Uns beschützt der Kaiser und das Gesetz.«
»Kaiser und Gesetz sind nicht Deutschland, Vater. Und wo man beschützt werden muß, ist man nicht daheim.«
»Du bist ein Klügler. Das Leben ist einfacher, als die Klugheit eines Knaben.«
»Ich bin kein Knabe mehr, Vater. Wenn uns das Volk lieb hätte, wären wir nicht so wie wir sind. Wir sind Unebenbürtige in diesem Land und wir sind doch mehr als sie, stärker als sie!« Wieder funkelten seine Augen und es lief ein Zittern durch seinen Körper; er stand da, sein schmales Gesicht war verzerrt, seine Hände waren ineinander gekrampft, und er stieß einen Laut des Grauens aus. Elkan blickte verstört umher, aber er gewahrte nichts. Er packte Agathon bei den Armen, schüttelte ihn und begegnete seinem ausdruckslosen, starrenden Blick.
Die Türe knarrte, und Frau Jette kam herein. Sie sagte, ein armer Gast sei gekommen und wolle für die Nacht Unterkunft. Fast willenlos verließ Elkan das Zimmer. Als er wieder den Flur entlang schritt, überfiel ihn beklemmend das Gefühl seiner Not. Morgen würde ihn Sürich Sperling pfänden lassen, und selbst die kleine Krämerei, die den Bedarf für den Tag deckte, würde verloren gehen. Hätte er nur seiner Kinder Geld bei Löwengard bekommen können! Er überlegte, wie er dies anstellen könne.
Der Fremde stand im Zimmer und murmelte Gebete; seine Augen flogen gierig über die schmutzigen Blätter des Buches und sein Gesicht hatte einen übertriebeninbrünstigen Ausdruck. Als er fertig war, wurden seine Mienen finster und feindselig; er beantwortete alle Fragen so kurz als möglich, schaute keinem ins Gesicht und als die Magd mit den aufgewärmten Kartoffeln kam, wandte er sich ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen, um nicht durch den Anblick einer Christin verunreinigt zu werden. Sein Hut, den er während des Essens aufbehielt, war alt und zerlöchert.
Alle gingen zur Ruhe, auch der Fremde, der in der oberen Kammer am Giebel eine Bettstätte bekam. Immer klang es wie Wasserrauschen und Wellengeplätscher herein ins Dorf; Regen strömte herab, dann war es wieder still, dann kam ein summender Wind, dann trat wieder der Mond aus den Wolken, und seine Strahlen legten sich scheu auf die Dächer. Frau Jette sagte am Morgen, sie habe zweimal die Haustüre gehört, aber alle lachten sie aus. Frisches, warmes Brot stand auf dem Tisch und Kaffeedampf erfüllte die Stube. Die Männer kamen mit ihren Gebetsriemen, um das Morgengebet zu verrichten, denn sie konnten nicht zur Synagoge gehen,
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