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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Agathon. »Ich kann nicht Zahlen einpauken und Namen und Regeln, was weiß ich. Das quält mich. Wenn Bojesen nicht wäre, ich könnte nichts arbeiten, nichts denken in all den Stunden. Das ist alles tot.«
    Der Kleine schien sehr erstaunt und betreten. Agathon wurde immer bleicher, je näher sie dem Schulhaus kamen. In allen Gassen wurden die Läden geöffnet und die Kaufleute und Gehilfen, meist Juden, standen frisiert und frisch gewaschen vor den Türen und Auslagefenstern, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben.
    Schon von weitem sah man die Schar der Schüler vor dem Schulgebäude. Viele standen um eine Litfaßsäule, wo eine Göttin der Vernunft auf einem grünen Plakat ein gelbes Stück Seife emporhielt als wäre es eine Brandfackel. Die Schüler machten ihre unangenehmen Zoten über die Nacktheit der Seifengöttin. Kaum waren Agathon und sein Begleiter, der jetzt seinerseits in Schweigen versunken war und nur bisweilen einen schelen Seitenblick auf den Mitschüler warf, hinzugekommen, als eine Anzahl von Agathons Klassenkameraden auf ihn zustürzte, ihn an Schultern und Armen packte und in ihn hineinschrien: es sei doch einer ermordet worden in Zirndorf, ob er ihn gesehen habe, er solle erzählen, wie es zugegangen sei und so weiter. Die Schüler der unteren Klassen machten respektvoll Platz und begnügten sich damit, am Rande des Kreises ihre Ohren zu spitzen, um etwas zu erlauschen. Agathon sah sich dicht umstellt, und der Kleine schaute in naiver Furcht zu ihm auf und sagte: »Warum hast du das mir nicht gesagt?«
    Herr Pedell Dunkelschott erschien pustend auf der Schwelle des Schulhauses, und die Schar strömte laut lärmend in die hallenden Korridore. Agathon saß bald auf dem kleinen Klappstuhl, steif und still – und hörte nichts von dem Toben um sich. Ein süßes Wohlbehagen kam über ihn; der Ofen summte an seiner Seite, und draußen lag durchsichtig der lichte Herbstnebel. Er sah die Landkarten und es öffneten sich die fernen Länder, den Globus und er fühlte sich weit über der Erde. Er fühlte sich edler und älter, wie ein Mensch, der seine schlummernden Leidenschaften kennen gelernt hat.
    Der Unterricht begann. Professor Schachno spazierte mit seinen kurzen Veinchen geziert umher und schien bisweilen im Gehen zu schlummern oder er summte behäbig eine stille Weise vor sich, gleichsam einen Hymnus an jene sanfte Milde, mit der er die Welt betrachtete. Seine Haupttätigkeit bestand im Zudiktieren von Strafarbeiten, welche ihm das Ideal der Pädagogik zu sein schienen. Ein vergessenes Heft, ein schlecht gelernter Vers, ein Tintenfleck, ein unzeitgemäßes Lachen, ein unanständiges Rülpsen, das alles waren Fehler, einzig und allein ausrottbar durch das Universal Strafarbeit. Er dozierte deutsche Literatur und sprach über Goethe so, als ob Goethe froh sein müßte, einen Schachno als Nachgeborenen gefunden zu haben. Er summte gerade wieder und schlummerte zugleich ein wenig, als sich Agathon Geyer schwankend erhob und mit erloschenem Blick vor sich hindeutete. In seinem Gesicht lag ein tierisches Entsetzen. Die Schüler erhoben sich bang und flüsternd. Agathon stürzte zum Podium, fiel in die Knie, machte eine Armbewegung, als ob er die Füße eines Menschen umklammerte und sah mit brechenden Augen hinauf in das Gesicht dieser unsichtbaren Gestalt, Sürich Sperlings.

Drittes Kapitel

    Niemals sinkt der Abend so still herab, als wenn die Kirchenglocken läuten; Nebel fällt wie ein Gespinst über die Dächer, gleitet an den Häuserwänden herab, umhüllt flatternd die Laternen, liegt unbeweglich still in den Gärten und gibt ihnen das Ansehen eines Sees. Die Schritte scheinen leiser zu werden wie auf Teppichen.
    Agathon stand auf dem nassen Pflaster und schaute in eine glänzend erleuchtete Etage hinauf. Er dachte etwas verwundert nach über die Pracht und den Reichtum dieses Judenhauses, ging dann weiter und begegnete den Juden, die, aus dem Abendgottesdienst kommend, laut feilschten und handelten. Als er sie sah, fühlte Agathon, daß die Judenreligion etwas Totes sei, etwas nicht mehr zu Erweckendes, Steinernes, Gespensterhaftes. Er wandte seine Augen ab von den häßlichen Gesichtern voll Schachereifers und Glaubensheuchelei.
    Die Kirchweihbuden füllten die Königstraße bis zur protestantischen Kirche hinauf. Die Ausrufer der Schaubuden schrien sich heiser und verdrehten den Körper, als ob sie Leibschmerzen hätten; mit gesträubten Haaren schrien sie die Vorzüge ihrer

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