Die Juden von Zirndorf
weil der alte Vorbeter durch Zwistigkeiten, wie sie stets unter den Juden des Dorfes herrschten, daran verhindert wurde, sein Amt auszuüben.
Agathon rüstete sich zum Aufbruch; er mußte um acht Uhr zum Schulbeginn in Fürth sein, und es war eine Stunde Wegs, die er täglich zweimal zurücklegen mußte. Mittags hatte er Freitische bei reichen Juden in der Stadt. Er steckte die Bücher in seinen Träger und schien dabei weniger entschlossen und überlegt als sonst. Oft besann er sich lange, drückte die Augen zusammen, schaute fremd auf die Geschwister und die Mutter. Elkan Geyer war schon aufgebrochen; er ging über Land, wie er sagte wegen der Geschäfte, in Wahrheit aus Angst vor Sürich Sperling.
Während Frau Jette einen Scherz erzählte und Enoch mit großem Geräusch Kaffee schlürfte, erschallte auf der Straße ein gellender, durchdringender Schrei, wie wenn einer, die Finger zwischen den Zähnen, in der Art des Metzgerpfiffs aus aller Kraft pfiffe. Dann lief der Bauer Jochen Wässerlein vorbei und überstürzte sich fast vor Eile. Dann kam Pavlowsky, der Gendarm; er lief zwar nicht, aber er ging so schnell, wie noch niemand im Dorf ihn hatte gehen sehen. Sein Körper wurde bei jedem Schritt förmlich durchschüttelt. Agathon stand mitten im Zimmer, weiß wie ein Hemd, und ein irrsinniges oder triumphierendes Lächeln spielte um seine Lippen. Frau Jette hatte das Fenster aufgerissen und sich weit hinausgebeugt; sie sah am Kirchenplatz viele Menschen stehen; auch vor Martin Ambrunns Wirtschaft standen Leute.
Die Magd Kathrin stürzte herein. Der Ausdruck ihres Gesichts war nicht mehr Schrecken zu nennen; es war ein Krampf. Sie ließ die Unterkiefer herabhängen, daß der Mund weit offen stand und machte bloß Versuche, den Arm zu heben. »Was ist geschehen?« fragte Frau Jette mit starrendem Herzen. Kathrin brachte kein Wort hervor. Alle umstanden sie und endlich flüsterte das Mädchen: »Der Sebalderwirt ist tot; sie hab'n ihn umgebracht, heißt's.« Alle schwiegen. Joelsohn und Enoch Pohl murmelten ein Gebet. Die Kinder eilten auf die Straße und standen vor der Tür furchtsam still.
Auf Agathons Antlitz malte sich von neuem jenes irre und frohlockende Lächeln und auch er legte wie die beiden Alten betend die Hände aneinander, doch was ihn erfüllte, war nicht Andacht, sondern unendliche Lust und grenzenlosglückselige Genugtuung.
»Dank, Dank, Dank,« flüsterten seine Lippen, als er den Weg nach der Stadt antrat und er schritt dahin wie beflügelt.
Er verfolgte zuerst den aufsteigenden Weg nach der Veste, und von dort aus ging er den Kamm der Hügel entlang über Dambach und die äußere Schlachthausbrücke. Er wanderte im Halbkreis um das überflutete Gelände; überall rauschte und brandete das Wasser, und wenn sich die Morgennebel hoben, entstanden phantastische Städtebilder. Am Schlachthaus war der Anprall des Wassers gewaltig; das Gerassel der Wagen auf der Brücke wurde verschlungen vom Dröhnen der Brandung.
Hier traf Agathon seit den acht Tagen, da er diesen Weg gehen mußte, jedesmal um dieselbe Zeit und an derselben Stelle eine Frau, die leise murmelnd daherkam, eigentlich mehr kroch, als ging. Erst hatte sie Agathon wenig beachtet, dann war sie ihm aufgefallen durch den hartnäckigen, bösen und trotzigen Ausdruck, mit dem sie ihren Korb schleppte. Dann begann er sie aus einem geheimnisvollen Grund zu hassen; wenn sie seinen Weg kreuzte, funkelten seine Augen; als er ihr einmal ausweichen wollte, begann sein Herz zu klopfen und trieb ihn ihr entgegen und dann war ihm, als müsse alles, was er an diesem Tag unternahm, zerbrechen und fehlschlagen.
Heute kam sie nicht. Er blieb am Brückenpfeiler stehen und sah sich um. Sie kam nicht. Er selbst, der den ganzen Weg wie im Traum zurückgelegt, begann dadurch gleichsam aufzuwachen und er fuhr mit der Hand über die Augen. Sein Blick ging forschend durch die aufsteigenden Gassen des Uferviertels.
Sonst wenig geneigt zu Gesprächen redete er am Obstmarkt einen Schulkameraden an, einen kleinen, unbeholfenen Jungen, der sehr jüdisch aussah. Die beiden gingen eine zeitlang wortlos, endlich sagte der Kleine, gedrückt von dem schweigenden Wesen Agathons: »Wie sonderbar es hier riecht?«
»Nach Kohl,« entgegnete Agathon sarkastisch.
»Au!« schrie der Kleine enthusiastisch. Er war wie erlöst durch diesen anscheinenden Witz. »Hast du die salischen Kaiser gelernt?« fragte er dann.
»Ich lerne nicht. Ich kann nicht lernen,« murmelte
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