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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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saugte alle belletristischen, politischen und vermischten Neuigkeiten in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser, zahlte erst als es dämmerte, dann ging er zu einem Trödler, versetzte sein Uhr und machte sich auf den Weg nach Zirndorf, um die Nacht in der Ziegelei zu verbringen.
    Die Flut war nun so weit zurückgetreten, daß die gewöhnlichen Wege gangbar waren. Bei Dambach war ein Notsteg errichtet und schwankte hin und her wie eine Schaukel. Abenddunst huschte schattenhaft über das Wasser, das rauschend dahinschoß. Dann trat der Mond heraus, kalt, klar, eine halbe Scheibe. Aus der öden Ebene wurde ein Nebelreich, die ferne Stadt schien eine alte Festung, aus Rauch und Staub erbaut, der Wald schien zu hüpfen, oder sich zu verschieben wie eine Kulisse. Der Mond war tausendmal in tausend Wellen zu sehen, auch in dem ruhigen breiten Wasser, womit die Wiesen überschwemmt waren. Lichter schauten aus einem Weiler, flimmerlos, matte Punkte wie Leuchtkäfer; ein Bauer schrie, ein Hund bellte, dann fingen plötzlich die Glocken von der Stadt herüberzuläuten, eine unendliche Melodie, die langsam strömte wie dunkler Wein aus grünem Glas.
    Gudstikker sah eine Gestalt vor sich. Sie wanderte müßig dahin, griff nach Stauden am Weg, nach Halmen, warf Steine ins Wasser. Es war Agathon. Gudstikker griff aus und wünschte guten Abend. Agathon erschrak.
    »Was denken Sie so den langen Weg ins Dorf?« fragte Gudstikker.
    »An vieles. Oder an nichts.«
    »Mir scheint, mir scheint, Sie sind ein Träumer, ein heimtückischer Träumer, ein versteckt kochendes Wasser. Niemand ahnt, daß es kocht, auf einmal fliegt der Deckel herunter –!«
    Agathon lächelte überlegen. »Warum glauben Sie das?« fragte er sanft. »Sie kennen mich doch kaum. Sie wollen mir nur imponieren.«
    Gudstikker schüttelte melancholisch den Kopf. Dann schnupperte er die Luft durch die Nase und rief: »Was für ein Abend! Zum Sterben schön. Aber dafür haben Sie ja keinen Sinn. Juden haben keinen Natursinn. Übrigens muß ich Ihnen etwas erzählen. Ich hatte gestern ein merkwürdiges Abenteuer. Als ich am jüdischen Waisenhaus vorbeiging, hörte ich furchtbares Schreien. Die Straße menschenleer, ein kleiner Junge stürzt auf mich zu, nennt mich Herr Jesus, zerrt mich die Stiege hinauf, durch drei, vier Schlafsäle, durch ein ödes Schulzimmer, durch eine Art Betsal und ich höre wieder schreien.«
    »Im Haus?«
    »Im Haus. Ich öffne eine Tür, zwei große Kerle, in schwarzem Talar stehen da, der eine betet und der andre schlägt mit einer Hundspeitsche auf den Knaben los. Ich, wie toll, schlage den einen zu Boden, drücke den anderen an die Wand, nehme den Knaben ab und gehe mit ihm fort. Die beiden Zuchtmeister mir nach, auf der Gasse entsteht ein Auflauf und schließlich hab' ich noch Mühe, die Elenden vor der Wut des Volkes zu retten.« Gudstikker ward bleich bei dem Bericht; es war, als sähe er alles mit doppelter Deutlichkeit vor sich.
    Agathon sah seinen Begleiter mit leisem Mißtrauen von der Seite an. »Weshalb hatten sie ihn denn so gegezüchtigt?« fragte er.
    Gudstikker sagte etwas, wobei Agathon die Hände zusammenschlug.
    »Ja, es ist eine schmutzige Welt, in der wir leben,« seufzte der andere. »Wir waten durch den Kot, in dem sich die Sterne spiegeln. Wir sind zu gebildet, um noch brauchbare Menschen zu sein. Wir wissen zu viel, wir schnüffeln zu viel in uns selber herum. Die Psychologie hat lauter Hamlets aus uns gemacht. Sürich Sperling, der war kein Hamlet, der war ein Fortinbras.«
    »Warum reden Sie immer wieder von Sürich Sperling!« sagte Agathon gequält.
    Gudstikker blieb stehen, heftete seine Blicke durchdringend auf den Gefährten und seine Augen sahen groß und feurig aus im Licht des Mondes. Sie waren auf dem Hügelkamm angelangt. Die Waldnacht starrte sie an, in der Tiefe schimmerten die Lichter von Zirndorf. Agathon lehnte sich an einen Baumstamm; sein Gesicht hatte einen visionären Ausdruck. »Ich sehe ihn,« sagte er.
    Gudstikker wich scheu zurück.
    »Hören Sie,« fuhr Agathon fort, »mir ist, als könnte ich auch die Zukunft sehen. Einer hat mich so weit hinaufgehoben, daß ich sie sehen kann: Sürich Sperling. Nicht weil er gelebt hat, sondern weil er tot ist. Aber fragen Sie nicht.«
    Sie gingen weiter. Gudstikker kaute an einer erloschenen Zigarette. Über den Mond zogen flaumige Wolken, ohne daß sie seinen Glanz zu mindern vermochten.
    »Was ist eigentlich Ihr Beruf?« fragte Agathon.
    Gudstikker

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