Die Juden von Zirndorf
geworden neunzig Jahr, un meine Kinder schämen sich meiner. Hab' ich gehabt e Gut, e Haus un e Viech un e Frau, un es Unglück is gekommen un hat aufgesperrt seinen Rachen, daß ich jetzt sein muß heimlich in der Scheune meines Vetters, bis er wird sein willig, mir zu geben e Kammer für die Nacht. Glauben is kaaner mehr in der Welt, ich spürs am eignen Fleisch, Gott hat die Zeit verloren, sie is ihm gefallen aus der Hand, nebbich. Du hörst se schreien von Juden un Christen, aber was se meinen is das Geld un was se nicht meinen, is die Frommheit. Was is Gott? Is das Gott, wenn ich mach e Kreuz, wenn ich bet in der Thora? Is das Papier Gott? Is das Holz Gott? Is Gott der Himmel, is Gott der Mond? Nix is Gott; Gott is meine Gutwilligkeit un mein Armsein. Ich bin Gott, du bist Gott, e Gespenst is Gott, e Stück Armut und Elend.«
Er hatte die Hände erhoben und seine Augen standen voll Tränen. Zerrissen mit sich und der Welt lag er da. Agathon war versteinert. Dann begann der Alte wieder, leiser und ruhiger: »Jetzt gehste wieder hin, wo de bist hergekommen, legst dich schlafen un bist still. Du bist e gescheiter Mensch un wirst schweigen. Ich muß sein allein. Ich kann nit sehn vor mir e menschliches Gesicht.«
Agathon wandte sich, verschloß die Tür, ging ins Haus, in sein Zimmer, kleidete sich aus, – alles wie bewußtlos. Dann legte er sich ins Bett und dachte nach, weit über Mitternacht hinaus.
Sechstes Kapitel
Er stand auf, spürte die Nacht um sich her mit den Fingern, kleidete sich an, ging hinab, und obwohl er sich nicht bemühte, leise zu gehen, schwebte er nur so hin über die Treppe und den Flur. Aus der Straße war es zauberhaft still: Häuser, Gärten, Brunnen gefroren in Ruhe. Er schlich um das Sebalderwirtshaus herum, erkletterte das Weinlaubgerüst, stand oben vor einem vergitterten Fenster, preßte sich mit seltsamer Geschicklichkeit durch und hüpfte durch die geöffneten Fenster in Sürich Sperlings Schlafgemach. Es war vollkommen finster, doch sah er jeden Gegenstand, auch den verstecktesten, mit brennender Deutlichkeit. Sürich Sperling lag nicht im Bett, sondern saß auf einem Stuhl, starrte in den leeren Ofen und sagte: »Mich friert.« – »Soll ich einschüren?« fragte Agathon sanft. Er kniete hin und heizte. Das Material, das er dazu gebrauchte, fühlte sich an wie Wolle, und schließlich wurde es naß und er sah, daß er mit Blut geheizt hatte. Dann öffnete sich die Tür und von den flackernden Flammen beleuchtet, kam Stefan Gudstikker herein. Er führte an einer Leine zwei Hunde, zwei Katzen und zwei weiße Mäuse, die alle gehorsam hinter ihm herschritten. Er ging auf Agathon zu und reichte ihm einen Brief, über den Agathon in große Bestürzung geriet und dann sah er plötzlich seine Mutter, die mit rollenden Augen etwas Unverständliches sagte. Jetzt stand Sürich Sperling auf und sagte: »Es lebe das Kapital. Es lebe die Schnaps- und Fuselbrennerei. Es lebe die Bürgerschaft, die überm Pulverfaß schnarcht. Es lebe die Revolution. Ich bin Robespierre. Ich bin der ewige Jude. Es lebe der Tod.« Plötzlich wurde es hell im Zimmer, Agathon wußte nicht, ob durch die Flammen im Ofen oder durch ein Feuer von draußen. Da begann das Kruzifix an der Wand lebendig zu werden, Agathon sah ein Männergesicht von erhabener Schönheit und kniete nieder. Doch als er wieder emporblickte, sah er statt dessen eine nackte Frau. Es war Jeanette. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn fort, durch das leere Dorf, durch die Stadt, durch Wiesen und Wälder und Felder, dann kam eine öde Strecke, dann eine Brücke, die über einen grauenhaften Schlund hinwegführte, und endlich kam ein Garten auf einem Hügel, und in der Tiefe erwachte der Morgen, die Sonne: rot, schwer und langsam. Alles war zerstoben, glänzend kam der Tag.
Frau Jette blieb, als die Männer zur Synagoge gingen, im Bett. Die Morgenzeitung brachte die Nachricht von dem Bankrott einer großen Nürnberger Firma. Darüber war alles erregt im Dorf. Aber der Putz, in dem die Weiber zum Gottesdienst eilten, war darum nicht weniger prächtig. In Samt und Seide, mit kostbaren Hüten und gelben Schuhen tänzelten sie an den Düngerhaufen vorüber durch das schmutzige Dorf. Ernster und stiller betrugen sich die jungen Mädchen. Es waren Mädchen mit schönen zarten Gesichtern dabei, voll jener grundlosen Schwermut, die nur den Juden eigen ist, mit jenen schwarzen Augen, die keine Tiefe haben, mit
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