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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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hörte er nichts von dem, was gelehrt wurde, hatte nicht memoriert, eine wichtige Lektion nicht geschrieben und kam in den Strafbogen. Er begriff nicht, warum er all das Tote in sich aufnehmen solle, da es doch auf jedem Schritt des Lebens genug gab. Er begriff die Verachtung, in der die meisten Lehrer bei den Schülern stehen; sie galt nicht der Person, sondern dem Amt. Es galt der Handwerkerart, die feierlichen Dinge der Geschichte mit dem Gedächtnis feilschend herabzuwürdigen, erlauchte Namen so zu nennen, als ob es gälte, ein Adreßbuch durchzulesen. Alt diesem Morgen begann Agathon zu sehen, wie wenn ein Brett von den Augen seiner Seele genommen wäre und dies erregte ihn so, daß seine Wangen ab und zu erbleichten. Nur ein Lehrer war es, an dem er mit abgöttischer Verehrung hing, an den er mit keinem Hauch von Kritik zu rühren wagte. Dieser Lehrer, Erich Bojesen, hatte sich von Anfang an durch die Art empfohlen, wie er die Wissenschaft der Chemie vor den Schülern zerlegte, so daß auch der Blöde und der Boshafte aufmerksam wurden. Er griff gleichsam mit lebendiger Hand in die Nacht der Natur oder in die Feuer der Natur und holte ihre Rätsel hervor, die er trotz aller Erläuterungen Rätsel und Wunder bleiben ließ. Er tat nicht wichtig mit der Wissenschaft und spielte nie mit ihr, machte auch nichts »Interessantes« daraus, sondern er stand hinter seinen Retorten und Röhren wie einer, der im Tempel steht und im Begriff ist, einen Gott zu predigen, dessen ganze Schönheit und Größe nur er selbst kennt. Er glich einem jungen Priester, der die gedruckten Gebetbücher verachtet und sein eigenes Gebet haben will und hat.

Fünftes Kapitel

    Als Stefan Gudstikker mit dem kleinen Knaben das Innere des hallenden Gebäudes betreten hatte, hörte das Schreien wieder auf. Dennoch beschloß er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er stieg die Treppe hinan, wurde nachdenklich gestimmt durch die düstere Stille des Hauses, schüttelte den Kopf über die mangelhafte Beleuchtung und betrachtete ein bemaltes Glasfenster, das den Propheten Jephta mit seiner Tochter zeigte. Er öffnete eine Türe, wobei sich das Bürschchen ungeduldig zwischen seine Beine drängte, und hatte einen weißgetünchten, fast finsteren Saal vor sich, in welchem Bett an Bett stand, dreißig oder vierzig wie in einer Kaserne, und über jedem der weißen Tücher schaute ein kaum weniger weißes Knabengesicht hervor, mit geschlossenen Augen, geschlossenen Lippen, angestrengten Lippen, die sich zu bemühen schienen, Seufzer zurückzuhalten. Eine dumpfe Luft schlug heraus und Gudstikker schloß schnell wieder zu, stand ratlos da und sah die Augen des zerlumpten Knaben verehrungsvoll und flehend auf sich ruhen. Da ertönte wieder das Schreien: lauter und eindringlicher. Der Kleine rang stumm die Hände und das Verzweifelte in der Gebärde trieb Gudstikker mehr an als Worte.
    In einem schmalen Raum saß der Schuldiener mit einer blauen Brille, riesenhaften Filzschuhen und einer Art Kaftan und nickte schläfrig; wenn ihn sein Gegenüber, der Vorsteher, anredete, fuhr er auf, machte ein devotes Gesicht und schlug mit einem spanischen Rohr klatschend auf den Rücken eines etwa dreizehnjährigen Knaben, der mit Riemen auf ein Brett festgeschnallt war. Der Knabe öffnete dann den Mund zu einem Schrei, der lang hinhallte und langsam erstarb, worauf er in eine schmerzliche Starrheit verfiel. Dies alles hatte etwas Gespensterhaftes und Stefan Gudstikker hätte lachen müssen, wenn er nicht das Gesicht des Knaben gesehen hätte, ein altjunges Gesicht mit der Erfahrenheit früher Schmerzen und bohrend-unruhigen Augen, Knabenaugen, die manchem Mann zu denken geben konnten. Kaum sah der Bursche an Stefans Seite das Unglück seines Freundes, als er auf ihn zustürzte und bitterlich zu weinen anfing.
    »Ruhig! was ist hier los?« rief der Vorsteher erstaunt.
    »Was ist hier los?« wiederholte getreulich der mit den Filzschuhen und zeigte einen wahren Schwertfischzahn, der wie eine Schaufel aus der Unterlippe hervorragte.
    »Wo kommt ihr her?« fragte der Vorsteher und schaute seine dicken Finger an, als wären sie durch die Erscheinung der Fremden beschmutzt.
    »Wo kommt ihr her?« fragte auch der Blaubebrillte und versteckte seinen Zahn, so gut es ging.
    Stefan Gudstikker erwiderte nichts, nahm sein Messer, durchschnitt die Riemen und hob den Knaben herab.
    »Was soll das bedeuten? Was erlauben Sie sich, junger Mann?« donnerte der Vorsteher und suchte die Angst

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