Die Juden von Zirndorf
eigenem Antrieb hinauszubauen über das Vorhandene, stellte ungeheuerliche und gefährliche Experimente an, um den chemischen Urstoff zu finden, jenes vage Etwas, Äther oder sonstwie genannt, an das er mit allen Sinnen glaubte, weil ihm das Element, sei es nun Gold oder Eisen, Schwefel oder Chlor, nicht mehr ein untrennbares Eins bedeutete. Freilich wollte er mit der Praktik nichts gemein haben, und so baute er weiter, kühn und mutig, wie ein Munn, der in der Wüste wohnt und dort Städte gründet für die späten Geschlechter, die da wohnen werden, wenn das Meer von Sand fruchtbares Erdreich geworden sein wird. Durch nichts glaubte er die Menschen sicherer glücklich zu machen, als durch Gold; er glaubte ihnen den Frieden zu bringen, wenn er die heißeste Begierde stillen konnte, die sie erfüllte, oder vielmehr, wenn er ihnen so viel des Begehrten gab, daß sie der Überfluß gleichgültig machte. Die Überzeugung durchdrang mit Glut sein ganzes Innere, gab seinen Augen einen prophetischen Glanz und seinem Wesen das Gepräge der Versunkenheit. Nur wenigen war er bekannt als der Auffinder aller Höhlen des Elends in der Stadt; er wußte Bescheid in jenen anrüchigen Kneipen, in denen der Verbrecher Unterschlupf findet, in jenen Herbergen, wo der reisende Bettler sein Nachtquartier hat, in den Schlupfwinkeln unter Brückenbögen, in den abgelegenen Gassen der Vorstadt, in den Remisen der Eisenbahn, an Kirchenmauern, in Kellern und übelberufenen Höfen, – kurz, an jenen Orten, wo sich das menschliche Elend beständig oder vorübergehend ein trauriges Asyl sichert, und es war, als ob er sich durch den Anblick von Schmutz und Verkommenheit in seinem Vorsatz und Eifer stärken wolle.
Er lebte ganz allein. Das weite düstere Haus, das ihm selbst nicht einmal in allen Winkeln bekannt war, sah nur zwei Besucher von Zeit zu Zeit: seine Nichte Käthe und Frau Gudstikker. Diese kam nur, um den Kopf zu schütteln, und alles, was Estrich tat oder sagte, unbegreiflich zu finden; Käthe lauschte begeistert den dürftigen Reden des Oheims und gab ihm zu erkennen, daß sie an ihn und sein Werk glaube.
Im Laufe von neunundzwanzig Jahren hatte er sein ganzes Vermögen an seine Träume gesetzt. Nun war er arm und litt darunter tief. Er konnte einen, wie er glaubte, letzten und entscheidenden Versuch nicht ausführen, weil ihm das Kapital zur Anschaffung eines seltenen und teuren Apparates fehlte. Alles, was er an barem aufbringen konnte, betrug nicht mehr als zweitausend Mark. Er wandte sich an seinen Bruder, im voraus überzeugt von der Fruchtlosigkeit dieses Schrittes, denn dieser Mann, der ihn verachtete und verspottete, würde eher eine Hand hingegeben haben, als Geld zu solchen Zwecken. Da trug es sich zu, daß Baldewin Estrich mit Nieberding bekannt wurde.
Es war in der Nacht ziemlich weit draußen in der Vorstadt. Schmerzlich grübelnd, gleichgültig gegen Menschen und Dinge, schritt Estrich seines Weges, als mehrere durchdringende Schreie hörbar wurden. Am hohen Bahndamm zog ein offenbar betrunkener Kerl ein Frauenzimmer an den Haaren nach sich. Sie lag auf der Erde und so schleifte er sie weiter wie ein Bündel Holz und erwiderte jeden ihrer Schreie mit einem Schlag seines dicken Spazierstocks. Fast in demselben Augenblick, als Estrich dies gewahrte, sprang ein Mann hinzu, stellte sich erregt vor den Burschen und forderte ihn auf, das Frauenzimmer los zu lassen, worauf ihm jener eine Flut von Beschimpfungen zubrüllte. Nieberding (dies war der junge Mann) wiederholte seine etwas pathetische Aufforderung. Der Bursche schlug ihn mit dem Ende seines Prügels vor die Brust, daß er zurücktaumelte. Jetzt mischte sich Estrich darein. Sein grauer Bart, eine gewisse Feierlichkeit seines Wesens und der Zorn, der seine Stimme vibrieren ließ, mochten Eindruck auf den Burschen machen, denn er befahl der Dirne, aufzustehen und sie gingen weiter, er fluchend, sie heulend.
Nieberding und Estrich blieben die ganze Nacht zusammen. Nieberding lauschte gierig den Ideen des Greises. Seine an Idealen so armen und ihrer so bedürftigen Sinne berauschten sich an der willkürlichen Umwertung der Materie, an dem alten und nun wieder neu gewordenen Glauben vom Urstoff. Die mittelalterlich-romantische Welt der Versuchsküche, das überzeugte und überzeugende Wesen des alten Mannes, der wie ein Magier sich inmitten seines Reiches bewegte, um beim leisesten Wunsch die Geister der Luft zu bannen, daß sie den leblosen Stoff durchdrangen und
Weitere Kostenlose Bücher