Die Juden von Zirndorf
Blutstropfen, durch die ganze Natur ging es wie ein Recken, Sichaufrichten. Dann lag die Stadt im Rücken, ein vielverzacktes Schattenbild, ein Knäuel Unglück, schwarz, ungeheuerlich starr, still, greifbar deutlich, in der Mitte ein glühender Fleck, eine beginnende Säule: der Brand, der im Verlöschen war, da oder dort ein Loch, da oder dort ein Fabrikschlot wie ein riesenhafter Finger. Dann nahm ihn der Wald auf; groß, dicht, leer von allen Geräuschen der Welt, eine drückende, zentnerschwere Finsternis. Hier atmete Agathon auf. Er legte sich aufs Geradewohl hin; obwohl es kühl und feucht war, verfiel er sofort in einen bleiernen Schlaf, schlief weiter, als der Tag graute, weiter als es Abend wurde und wiederum Nacht und tat erst die Augen auf, als ein klares, kleines Stück Mond im Herabsinken begriffen war. Er preßte die Hände gegen die Schläfen und meinte, vierzehn Jahre lang geschlafen zu haben, fühlte sich freier, mutiger, reicher an Hilfskräften, an Vertrauen, an Überzeugung. Er starrte eine Weile hinein in den Wald, empfand dann Hunger, erhob sich, erblickte bald das freie Feld, sah den Schmausenbuk unweit im bläulichen Nachtdunst und die Burg sich erheben über der Stadt.
Er hatte kein Geld, um in einer Schenke etwas zu sich nehmen zu können. Er hatte auch bisher kein Geld gehabt. Die Leute hatten ihm gegeben, mehr als er gebraucht, um satt zu werden. Sie wurden durch seine Person und sein Wesen in hohem Grade für ihn eingenommen. Er hatte eine außerordentliche Milde, zu lächeln. Er war schön und groß. Auch der einfachste Mann konnte seine tiefen Leidenschaften, sein mächtiges Herz, seinen überlegenen Mut, die Wildheit seiner Wünsche ahnen. Nie grübelte er, sondern träumte nur. Sein Blick hatte etwas von dem unbestimmten Blick eines Pferdes edler Rasse.
Er kam in die Stadt zurück. Wieder leere Gassen, dunkle Fenster und eine kaum wahrnehmbare Traurigkeit gleich feinem Reif über allem. Säulen mit Plakaten, verschlafene Schutzleute, hallende Stundenschläge, hallende Schritte. Eine Stadt ohne König, ohne Wille, ohne Kraft, ohne Leben, dachte Agathon, und er fühlte sich einsam. Er dachte an die Menschen hinter all den Fenstern, an die Art ihres Schlafes, ihrer Träume, an die Stärke ihrer Todesfurcht, an ihre Krankheiten, ihre Sorgen. Er kam in eine breite Straße außerhalb des Weichbildes, wo in einem Erdgeschoß drei Fenster erleuchtet waren. Gegenüber befand sich eine Allee, und am Wege war eine Bank. Agathon setzte sich, müde vom Schlaf, hungrig, durstig und doch erwartungsvoll, als ob er jetzt in ein neues Leben träte nach dem vierzehnjährigen Schlaf. Der gelbe Vorhang des einen erleuchteten Fensters färbte sich mit Bildern, schwankend und gleitend, die dahinglitten wie Wolken am blauen Himmel. Nebenan hinter dem Busch rieselte das Wasser eines Brunnens vertraulich und leise. Plötzlich erschien unter den unwirklichen, hingeträumten Bildern des Vorhanges ein Schatten, dann wurde der Vorhang aufgezogen, das Fenster geöffnet, und eine weibliche Gestalt trat in seinen Rahmen. Dann knirschte das Tor, die Gartentüre kreischte und ein sehr schlanker Herr, fest umhüllt mit dem Mantel, schritt über die Straße. Agathon hatte sofort die Gestalt am Fenster erkannt.
Die Luft war lau und unbewegt. Sie verkündete den Frühling. Sie schien aufzusteigen aus dem Erdboden wie ein warmer Brodem, umwand Baum und Stein, kroch an Häusermauern empor bis zum Mond. Agathon ging hinüber gegen das Fenster, das bei seinem Nahen geschlossen wurde, – langsamer als es geöffnet worden war. In diesem Augenblick fühlte er sich verlassen. Das Schließen des Fensters glich für ihn einer höhnischen Zurückweisung. Er blickte an seinen Kleidern herab, sie waren in schlechtem Stand; seine Stiefel waren zerrissen.
Er ging weiter und die Nacht erschien ihm tot, so daß selbst das Bellen der Hunde nicht mehr in ihr widerhallte. Nach einer Stunde kam er wieder an dasselbe vornehme Haus, vor dasselbe Fenster, und wieder war das Fenster geöffnet und Jeanette lehnte weit heraus, den Kopf auf beide Hände gestützt, spähte hinein ins Finstere, war unbeweglich, und ihr Gesicht erschien bleicher als die bleiche Mauer des Hauses. Agathon blieb stehen und grüßte hinauf. Sie fuhr zusammen, veränderte ihre sphinxhafte Haltung und stieß einen Schrei aus. Dann schlug sie die Hände zusammen und rief Agathons Namen.
Einige Minuten später war er im Zimmer. Sie selbst hatte ihm geöffnet und saß nun
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