Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Titel: Die Juliette Society: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasha Grey
Vom Netzwerk:
ich mir vorstelle, dass es auch die Zuschauer getan haben müssen, als Vertigo in die Kinos kam, und die Leute im ganzen Land Zeuge wurden, wie Scottie Judy die Stufen des Glockenturms hinauf und in den Tod jagt.
    Dann läutet es. Nicht im Film, sondern im Vorlesungssaal. Die Stunde ist vorbei, und Anna ist noch immer nicht aufgetaucht. Das verstehe ich nicht. Sie kommt zwar immer zu spät, aber sie hat noch nie eine Vorlesung verpasst. Nicht ein einziges Mal. Das ist vollkommen untypisch für sie.
    Sobald die Klingel ertönt, fangen die Studenten an, zusammenzupacken und nach draußen zu drängen, so wie es die Leute immer gar nicht erwarten können, von ihren Sitzen aufzuspringen, wenn das Flugzeug gelandet und noch bevor das Anschnallzeichen erloschen ist. Ich bleibe wie angewurzelt auf meinem Platz sitzen, den Stift noch immer gezückt, als wollte ich mir weitere Notizen machen. In der rechten oberen Ecke des Blocks habe ich ein paar Zahlen gekritzelt, daran erinnere ich mich noch, aber ich habe völlig vergessen, auf was sie sich beziehen. Ich frage mich, warum Anna nicht zum Unterricht erschienen ist und wo sie sein könnte. Ich sitze da und denke darüber nach, bis Marcus und ich die einzigen Leute sind, die sich noch im Vorlesungssaal befinden.
    Marcus wischt gerade die Tafel und entfernt alles, was er darauf notiert hat, um seine Vorlesung zu veranschaulichen, als gelte es, alle Spuren seiner sexuellen Obsessionen auszumerzen. Er wischt all die Wörter weg, die ich ihn so gern sagen höre.
    Skopophilie, die sexuelle Erregung durch das Beobachten anderer Menschen.
    Retifismus, auch Schuhfetischismus genannt.
    Trichophilie, die sexuelle Erregung durch das Betrachten oder Berühren von Haaren.
    Als er fertig ist, wendet er sich wieder seinem Pult zu, sammelt seine Notizen zusammen, klemmt sie sich unter den Arm und blickt auf. Er hebt den Kopf und sieht mich an, und mir fällt auf, dass es das erste Mal ist, dass er mich wirklich ansieht. Das erste Mal, dass sich unsere Blicke treffen und er mich direkt anschaut. Plötzlich schäme ich mich, es ist mir peinlich, dass ich diese von Anna geliehenen Klamotten anhabe, die überhaupt nicht zu mir passen.
    Marcus sieht mich erwartungsvoll an, und ich sage: »Ich warte auf Anna.«
    »Auf wen?«, fragt er.
    Ich weiß nicht, ob das ein Spaß sein soll, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Marcus Witze macht. Dazu ist er einfach zu ernst, zu intellektuell, zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Andererseits ist es unmöglich, bei Marcus anhand seines Gesichtsausdrucks oder seiner Stimme zu erraten, was er fühlt oder was er denkt. Er gibt nichts von sich preis. Er ist vollkommen verschlossen und geheimnisvoll, und das ist auch der Grund, warum ich so besessen von ihm bin.
    »Das blonde Mädchen«, sage ich, »das hinter mir sitzt. Anna.«
    Und dann platzt es einfach aus mir heraus, alles, was sie mir erzählt hat, weil ich in Marcus’ Gegenwart so aufgeregt bin und er mit mir redet und ich mit ihm. Ich sage ihm alles, was ich weiß. Über Annas Besuche bei ihm, die Wohnung, den Schrank und die Klamotten seiner Mutter.
    Ich habe mich vorher noch nie mit Marcus unterhalten, wir haben noch nie mehr als ein paar Worte gewechselt, und ich will, dass er weiß, dass ich es weiß. Ich will, dass er weiß, dass seine schräge Vorliebe okay für mich ist, dass ich ihn verstehe. Und dass wir, weil ich ihn verstehe, etwas gemeinsam haben. Dass ich ihm, wenn er Anna mag, auch gefallen könnte.
    Er hört mir zu, ohne ein Wort zu sagen. Er lässt mich reden und unterbricht mich nicht, und ich fühle mich wie im Himmel, weil ich doch tatsächlich mit Marcus rede, ihn nicht bloß anschaue und von ihm träume. Es ist so, als hätte ich ein persönliches Meet and Greet mit einem Popidol, für dass ich schon seit meiner Kindheit schwärme, von dem ich immer geträumt habe, mit dem ich imaginäre Gespräche geführt und zu dessen Vorstellung ich masturbiert habe. Und jetzt steht er hier direkt vor mir, bloß er und ich, und wir unterhalten uns, tauschen uns aus – zumindest fühlt es sich so an, auch wenn bloß ich es bin, die redet –, und alles, was ich sagen will, sprudelt in einem atemlosen Rausch nur so aus mir heraus, wenn auch nicht unbedingt in der richtigen Reihenfolge. Doch als ich mir sicher bin, dass ich alles gesagt und nichts ausgelassen habe, verstumme ich.
    Er sieht mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, irgendwo zwischen Stirnrunzeln und Lächeln. Ich kann nicht

Weitere Kostenlose Bücher