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Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Titel: Die Juliette Society: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasha Grey
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derselben Frisur und derselben Haarfarbe. Ich ziehe mich für Marcus an wie Anna, aber was auch immer ich damit beabsichtige, es funktioniert ganz offensichtlich überhaupt nicht und lässt ihn keinesfalls auf mich anspringen. Jetzt, wo ich weiß, dass Marcus ein Faible für Blondinen hat, frage ich mich, ob ich aufs Ganze gehen und meine Haare bleichen lassen soll, damit ich so nah an Anna rankomme wie nur möglich, ohne wirklich sie zu sein. Ich weiß, dass Marcus nicht auf mich abfährt, weil er wieder seine engen, braunen Anzughosen trägt. Und da regt sich nichts.
    Marcus erzählt uns, dass sich alles, was wir über den Mann Hitchcock wissen müssen, in seinen Filmen verbirgt, und ich schätze, das soll wohl bedeuten: Kleider machen Leute. Ich analysiere die Bedeutung von Marcus’ brauner Anzughose – der Hose, die er immer trägt – und versuche, damit zu ergründen, wer er wirklich ist. Ich frage mich, ob es die einzige Hose ist, die er besitzt, oder ob es in seinem Schrank, wenn er darin nicht gerade auf Anna wartet, genauso aussieht wie bei Mickey Rourke in 9 ½ Wochen , voll mit mehreren Garnituren der gleichen Klamotten. Immer das gleiche weiße Baumwollhemd mit dem Stehkragen, das Marcus anhat, genauso wie diese braune Hose, die im Schritt und am Hintern eng sitzt und an den Beinen leicht ausgestellt ist, ein Schnitt der schon Ende der Siebzigerjahre aus der Mode gekommen war.
    Ich frage mich, ob er Secondhandläden nach Hosen in genau diesem Stil und dieser Größe durchforstet, in der sein bestes Stück gut verpackt ist und gleichzeitig hervorgehoben wird. Doch dann komme ich zu dem Schluss, dass Marcus, der selbst die alten Klamotten seiner Mutter über so lange Zeit in tadellosem Zustand bewahrt hat, seine Hosen vermutlich seinerzeit neu oder fast neu erstanden hat.
    Marcus ist so Mitte, Ende vierzig, und wenn ich das mal eben überschlage – auch wenn es vielleicht seltsam ist, dass ich mich in einem Filmkurs mit Mathe befasse, aber ich bin nun mal ganz versessen auf alle Fakten und Zahlen, die mit Marcus zu tun haben –, also, wenn ich das mal eben überschlage, müsste er in der Pubertät angefangen haben, sich so zu kleiden, also mit zwölf oder dreizehn. Vielleicht auch ein paar Jahre danach, wenn er ein Spätzünder war.
    Seine Hosen waren wahrscheinlich schon damals aus der Mode, also gehe ich davon aus, dass sie wohl irgendeinen ideellen Wert für ihn haben müssen. Vielleicht sind es die Hosen, die sein Vater immer getragen hat, und vielleicht hat er sich, als er sie das erste Mal anzog, wie ein Mann gefühlt, wie sein Vater, und dann wollte er sich nie wieder anders kleiden.
    Das ist natürlich nur Spekulation, aber ich schätze, dass jeder mit einem so allumfassenden Mutti-Komplex wie Marcus auch Probleme mit einer Vaterfigur haben muss, die womöglich emotional oder physisch abwesend war oder beides. Wenn ich mir das vorstelle, habe ich irgendwie Mitleid mit ihm und wünsche mir, ich könnte einfach zu ihm gehen und ihn fest in den Arm nehmen und ihm ins Ohr flüstern, dass alles gut wird. Aber dazu wird es nie kommen, denn Marcus wirkt im Unterricht immer so ernst und unnahbar.
    Während ich in der Vorlesung sitze und Marcus zuhöre, schiele ich mit einem Auge immer wieder auf die Uhr, weil ich auf Annas Ankunft warte. Anna verspätet sich wie immer. Ich warte darauf, dass die Tür aufgeht, damit ich mir notieren kann, wann Anna ihren großen Auftritt hat, denn ich will herausfinden, ob sich da ein bestimmtes Muster ergibt. Marcus hat bereits dreiundvierzig Minuten und zweiunddreißig Sekunden seiner einstündigen Vorlesung hinter sich gebracht. Irgendwie schafft er es immer, alles so zu timen, dass er mit dem Gongschlag fertig ist. Er hat bereits alle relevanten Perversionen abgehandelt und widmet sich nun den Fetischen.
    Ich werfe wieder einen Blick auf die Uhr an der Wand über der Tür. Die Vorlesung endet in fünf Minuten, und Anna ist noch immer nicht aufgetaucht. Diesmal scheint sie es bis zum Äußersten ausreizen zu wollen und zögert ihren Auftritt bis zur letzten Sekunde heraus. Diesmal will sie Marcus wirklich zur Weißglut treiben.
    Mein Blick wandert zwischen den Zeigern der Uhr, die auf die volle Stunde zuticken, und dem Türspalt, der sich doch jeden Moment öffnen muss, hin und her. Ich kann Marcus’ Stimme hören, aber ausnahmsweise passe ich mal nicht richtig auf. Die Sekunden verstreichen. Die Anspannung ist kaum zu ertragen. Ich sitze auf der Stuhlkante, so wie

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