Die Jungfernbraut
weil Alex wieder schwanger war. Für die verwitwete Gräfin bin ich eine Art Gewächshaus, in dem Douglas' Samen wachsen und gedeihen kann, hatte Alex sarkastisch gedacht, kurz bevor sie eingeschlafen war.
Sie träumte von Melissande, ihrer unglaublich schönen Schwester, die vor kurzem ein kleines Mädchen zur Welt gebracht hatte, das Alex sehr ähnlich sah, bis hin zu grauen Augen und tizianrotem Haar. So etwas nenne man ausgleichende Gerechtigkeit, hatte Douglas gesagt; schließlich seien dafür ihre eigenen Zwillinge Ebenbilder der hinreißenden Melissande.
Aber in Alex' Traum stimmte etwas nicht mit Melissande. Sie lag regungslos auf dem Rücken, und ihr herrliches schwarzes Haar war fächerförmig auf den weißen Kissen ausgebreitet. Ihr Gesicht war bleich, mit bläulichen Schatten unter der Haut, und sie atmete flach und röchelnd.
Plötzlich war ihr Haar nicht mehr schwarz, sondern kastanienbraun und zu einem langen Zopf geflochten. Es war auch nicht mehr Melissandes, sondern Sinjuns Gesicht.
Alex wachte auf und blinzelte. Welch merkwürdiger Traum, dachte sie schlaftrunken, während ihr die Augen wieder zufielen. Vielleicht war Sinjun an Melissandes Stelle getreten, weil sie ihrer Schwägerin erst heute mittag einen langen Brief geschrieben hatte.
Alex döste wieder ein, aber diesmal hatte sie keinen Traum, sondern hörte eine leise Frauenstimme dicht an ihrem Ohr, und diese Stimme sagte immer wieder: »Sinjun ist krank . . . Hilf ihr . . . Du mußt ihr helfen . . .«
Alex fuhr stöhnend aus dem Schlaf. Neben ihrem Bett stand die Jungfräuliche Braut in einem schimmernden weißen Gewand, und sie sprach zu Alex, ohne die Lippen zu bewegen, leise und sanft, aber dennoch sehr eindringlich. »Sinjun ist krank ... in Nöten . . . Hilf ihr . . . hilf ihr!«
»Was ist passiert? Bitte sag mir — was fehlt Sinjun?«
»Hilf ihr!« flehte die schöne junge Frau händeringend. Ihre Finger waren lang, sehr schlank und seltsamerweise durchscheinend, so daß die Knochen als dunkle Schatten zu sehen waren. Ihr langes Haar war so hellblond, daß es in der Nachmittagssonne fast weißt wirkte. »Hilf ihr . . . Sie ist in großen Nöten . . .«
»Das tue ich.« Alex sprang aus dem Bett, und der Geist nickte, wich in eine Zimmerecke zurück und löste sich langsam in Nichts auf.
Alex holte tief Luft. Die Jungfräuliche Braut hatte sie monatelang nicht mehr besucht, und beim letzten Mal hatte sie gelächelt und erzählt, daß die Kuh des Bauern Elias die Kolik überlebt habe und dem kranken Baby des Bauern jetzt Milch geben könne. Und sie war auch in Alex' schwerster Stunde bei ihr gewesen, bei der Geburt der Zwillinge, als Alex vor Schmerzen laut geschrien und geglaubt hatte, sterben zu müssen. Damals hatte das Gespenst ihr versichert, daß alles gutgehen werde, daß sie keine Sekunde daran zweifeln dürfe, und Alex hätte schwören können, daß eine weiche Hand ihre Stirn und ihren Bauch berührt hatte und daß die Schmerzen daraufhin nachgelassen hatten. Douglas hatte später natürlich behauptet, sie habe einfach Fieberphantasien gehabt. Sie hätte ihm gar nichts davon erzählen sollen, aber sie wußte genau, warum er in dieser Hinsicht so eigensinnig war. Männer konnten einfach nichts annehmen, was sie nicht vorstellen konnten. Die Jungfräuliche Braut war mit dem Verstand nicht zu begreifen, und deshalb durfte es sie nicht geben.
Und nun war der Geist wiedergekommen, um ihr zu sagen, daß Sinjun krank und in Not war.
Douglas war nicht da. Er hatte vor einigen Tagen nach London zurückkehren müssen, zu einem Treffen im Außenministerium mit Lord Avery.
Nun, er könnte in diesem Fall sowieso nicht von Nutzen sein. Wenn sie ihm berichten würde, was die Jungfräuliche Braut gesagt hatte, würde er spöttisch lachen und sie wochenlang damit aufziehen. Nein, es traf sich sehr gut, daß er nicht zu Hause war, denn er hätte ihr nicht erlaubt, in ihrem Zustand etwas zu unternehmen — und sie wußte, daß sie rasch handeln mußte.
Hollis, der Butler, starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren, obwohl sie kein Wort von Schottland verlauten ließ, sondern angeblich nur ihren Schwager und ihre Schwägerin, Ryder und Sophie, in den Cotswolds besuchen wollte. Ihre Schwiegermutter schien hingegen heilfroh zu sein, daß sie nun wenigstens eine Zeitlang aus dem Haus sein würde.
Sophie hatte in den letzten Jahren selbst mehrmals Besuch von der Jungfräulichen Braut gehabt. Sie würde Alex' Bericht nicht in
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