Die Jungfrau Im Eis
und in den Wäldern herumtrieben, und wenn ich mich allein auf den Weg machte, könne ich mich in diesem Schnee noch einmal verlaufen. Zwei ganze Tage bin ich umhergeirrt«, sagte Yves. Er erinnerte sich deutlich an die Schrecken, die er durchgemacht hatte. »Zum Schlafen bin ich auf einen Baum geklettert, aus Angst vor Wölfen.« Er beklagte sich nicht, gab sich eher Mühe, nicht zu prahlen. Nun, das Beste war, man ließ ihn reden - so befreite sich sein Herz von Einsamkeit und Furcht, gerade wie ein Mann nach einer gefährlichen Reise seine Beine vor einem gemütlichen Feuer ausstreckt. Die Einzelheiten konnten bis später warten, wenn man ihnen die gebührende Aufmerksamkeit schenken konnte.
Wenn alles gutging, konnte er sie vielleicht zu den beiden vermißten Frauen führen, aber jetzt kam es darauf an, Bromfield zu erreichen, bevor es ganz dunkel war.
Wo die Bäume sich lichteten, kamen sie rasch voran. Im nachlassenden Licht des Tages konnten sie den Weg gut erkennen. Die ersten Schneeflocken schwebten bereits träge in der Luft, als sie sich dem Hopton-Bach näherten und das dicke Eis überquerten. Cadfael stieg ab, um das Pferd zu führen.
Danach wandten sie sich weiter nach links, entfernten sich aber langsam vom Bach und kamen an den ersten der kleineren Bäche, die den langen, sanft geschwungenen Hügel zu ihrer Rechten hinunterflossen und in den Hopton einmündeten. Auch diese Bäche standen still, sie waren nun schon seit vielen Tagen zugefroren. Die Sonne war untergegangen. Unter einer bleigrauen Wolkendecke stand am westlichen Horizont nur noch ein stumpfes, feuriges Abendrot. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Schneeflocken brannten auf ihren Gesichtern wie Nadelstiche. Der Wald war hier von verstreuten Pachtgründen und Feldern unterbrochen, und gelegentlich sah man einen rasch zusammengezimmerten Unterstand für Schafe, der sich gegen den Wind stemmte. Umrisse verschwanden zu bloßen Schatten, und das wenige verbleibende Licht wurde nur noch von der Oberfläche des Eises und den bläulichen Hügeln reflektiert, zu denen der lose Schnee aufgeweht worden war.
Der zweite Bach, still und schweigend wie die anderen, war seicht und vom Schilf gesäumt und wand sich wie eine silberne Schlange durch die Landschaft. Das Pferd scheute vor dem Eis unter sich zurück und wieder stieg Cadfael ab, um es hinüberzuführen. Die breite, glasige Oberfläche war milchig.
Nur wenn man direkt auf sie hinabsah, konnte man erkennen, was darunter lag. Beim Überschreiten des Baches achtete Cadfael auf seine Schritte, denn die Sohlen seiner Stiefel waren abgenutzt und glatt. So kam es, daß er, nur einen Augenblick lang, das geisterhafte Schimmern unter dem Eis zu seiner Linken sah, kurz bevor das Pferd ausglitt, sich wieder fing und sich durch das schneebedeckte Gras am anderen Ufer hinaufkämpfte.
Cadfael hatte das Ding unter dem Eis nicht gleich erkannt und noch länger dauerte es, bis er glauben konnte, was er gesehen hatte. Eine halbe Stunde später und er hätte es überhaupt nicht erkennen können. Fünfzig Schritte weiter hielt er hinter einem Gebüsch an, und anstatt wieder aufzusteigen wie Yves es erwartet hatte, drückte er dem Jungen die Zügel in die Hand und sagte betont ruhig: »Warte hier einen Augenblick.
Nein, hier brauchen wir noch nicht abzubiegen, wir haben die Weggabelung noch nicht erreicht. Ich habe dort etwas gesehen.
Warte hier!«
Yves wunderte sich, aber er blieb gehorsam zurück, während Cadfael noch einmal zu dem zugefrorenen Bach hinunterging.
Der Schimmer war kein Trugbild eines verirrten, vom Eis reflektierten Lichtstrahls gewesen - er war immer noch da, reglos und eingeschlossen im Eis. Cadfael kniete nieder und betrachtete das Ding genauer.
Die kurzen Haare in seinem Nacken richteten sich auf. Das war kein einjähriges Lamm, wie er einen Augenblick lang geglaubt hatte. Es war länger, ebenmäßiger, zierlich und weiß.
Aus der gläsernen Umklammerung des Eises blickte ihn mit offenen Augen ein blasses, zart schimmerndes Gesicht an.
Kleine, zierliche Hände waren noch kurz von der Strömung bewegt worden, bevor der Frost sie umschlossen hatte. Die Handflächen waren wie in einer flehenden Geste nach oben gekehrt und schienen neben dem Körper zu schweben. Die Blässe ihres Körpers und der weiße Stoff des zerrissenen Unterkleides - dem einzigen Kleidungsstück, das sie trug - war, so erschien es Cadfael, an der Brust mit Farbe verschmiert.
Aber der Fleck war so leicht, daß
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