Die Jungfrau Im Eis
Godstoke überquert hatten. »Wir müssen damals ganz in der Nähe gewesen sein«, sagte Yves, verwundert bei dem Gedanken, daß er an jenem Tag, ohne es zu wissen, seiner Schwester ganz nah gewesen war. »Wir haben noch etwa eine Meile zu gehen.« »Ich hoffe, daß sie dort ist!« »Das hoffen wir alle«, entgegnete Hugh. Sie erreichten Ledwyche über einen leichten Hügelkamm, und als sie aus dem Wald traten, sahen sie vor sich am Fuß des Abhangs den Ledwyche-Bach, in den alle anderen Bäche dieser Gegend flössen und der viele Meilen weiter südlich in den Teme mündete. Auf der anderen Seite des Baches stieg das Gelände wieder an und dort, direkt gegenüber, ragte der riesige, dunkle Umriß des Titterstone Clee auf, dessen Gipfel durch tiefhängende Wolken verborgen war. Das Tal war an allen Seiten vor rauhen Winden geschützt. Rings um das Gut waren die Bäume gefällt worden, nur an einigen Stellen hatte man sie als Windschutz für Vieh und Felder stehengelassen. Vom Hügelkamm sahen sie hinab auf eine beeindruckende Ansammlung von Häusern: Das Gutshaus selbst war lang, hatte ein steil geneigtes Dach und überragte die geduckten Nebengebäude. Alle Häuser, auch die Scheune, das Vorratshaus und die Ställe, wurden von einer Palisade umschlossen. Es war ein ansehnlicher Besitz und stellte in diesen gesetzlosen Zeiten gewiß eine große Versuchung für gierige Räuber dar, war aber vielleicht etwas zu gut bemannt, um eine leichte Beute zu sein.
Allem Anschein nach machte sich der Herr des Gutes jedoch Sorgen um seinen Besitz, denn als sie näherkamen konnten sie sehen, daß auf der schmalen Holzbrücke, die auf der anderen Seite des Gutshauses über den Bach führte, Männer emsig damit beschäftigt waren, eine Sperre aus Baumstämmen zu errichten, und über dem alten, nachgedunkelten Holz der Palisade - insbesondere auf der östlichen Seite - leuchtete das weiße, frische Holz der erst kürzlich angebrachten Verstärkungen. Der Besitzer rüstete zur Verteidigung.
»Sie sind mit Sicherheit hier«, sagte Hugh Beringar und betrachtete alles. »Der Mann, der hier lebt, ist gewarnt und hat nicht vor, sich ein zweites Mal überraschen zu lassen.«
Voller Hoffnung ritten sie auf das offene Tor in der Palisade zu, die hier, im Westen, noch immer nur brusthoch war. Aber auch diese Seite war gut bewacht, denn in der Toröffnung erschien ein Bogenschütze und rief sie an. Sein Bogen war gespannt und wenn er auch keinen Pfeil eingelegt hatte, so hatte er doch einen Köcher über der Schulter.
Er war ein gewitzter Bursche und hatte die gute Ausrüstung der Bewaffneten, die hinter Beringar ritten, so rasch eingeschätzt, daß ein höfliches Lächeln auf seinem eben noch mißtrauischen Gesicht erschien, bevor Beringar ihm noch seinen Namen und seinen Titel zurufen konnten.
»Ihr seid herzlich willkommen, Herr. Der Stellvertreter des Sheriffs kommt zur rechten Zeit. Wenn unser Herr gewußt hätte, daß Ihr in der Nähe seid, hätte er nach Euch geschickt.
Denn selber konnte er nicht gut kommen... Aber kommt herein, Herr, kommt herein! Mein Junge hier wird gleich dem Verwalter Bescheid geben.«
Der Junge rannte bereits über den zerstampften Schnee im Hof. Als sie die gepflasterte Auffahrt zur großen Eingangstür des Gutshauses hinaufgeritten waren, kam der Verwalter, ein stämmiger Mann mit rötlichem Bart und kahlem Kopf, hinausgeeilt, um sie zu begrüßen.
»Ich suche Evrard Boterei«, sagte Hugh. Der Schnee fiel von seinen Stiefeln, als er abstieg. »Ist er hier?«
»Ja, Herr, aber er ist nicht bei guter Gesundheit. Ein schweres Fieber hat ihn gepackt, aber nun kommt er langsam wieder zu Kräften. Ich werde Euch zu ihm bringen.«
Er ging die steilen Stufen hinauf voran. Hugh Beringar folgte ihm und hinter ihm kamen Cadfael und Yves. In der großen Eingangshalle herrschte um diese Zeit, da sich kaum jemand in ihr aufhielt und nur wenige Lampen Licht verbreiteten, ein trübes Zwielicht. Ein niedergebranntes Feuer im großen Kamin gab nur wenig Wärme ab. Alle Männer des Hauses arbeiteten an den Verteidigungsanlagen. Hinter einer Stellwand klapperte eine Matrone mittleren Alters mit ihrem Schlüsselbund und durch die Küchentür warfen ein paar Mädchen verstohlene Blicke und flüsterten miteinander.
Mit einer ehrerbietigen Geste öffnete der Verwalter am Ende der Halle die Tür zu einem kleinen Zimmer, in dem ein Mann matt in einem großen, gepolsterten Sessel saß. Auf einem Tisch an seiner Seite standen eine
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