Die Jungfrau Im Eis
mit beiden Händen fest, trat der vorwärts drängenden Gestalt in den Weg, schlang die Arme um den Mann und hielt ihn fest. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen ihn und sah durch den blendenden Schnee hinauf in ein Gesicht, das so kalt und unbeweglich war wie eine Totenmaske.
»Bruder Elyas, kommt zurück mit mir! Ihr müßt umkehren - hier draußen werdet Ihr sterben!«
Unerbittlich ging Bruder Elyas weiter und schob den Jungen vor sich her. Er war behindert, aber er ließ sich nicht aufhalten.
Yves ließ nicht los und ging mit ihm, aber er zerrte an ihm und sprach beschwörend auf ihn ein: »Ihr seid krank, Ihr solltet im Bett sein. Kommt zurück mit mir! Wohin wollt Ihr denn? Kehrt um, ich führe Euch nach Hause...«
Aber vielleicht wollte er nirgendwo hin, vielleicht wollte er nur vor etwas oder jemandem fliehen, vor sich selbst oder vor irgend etwas, das wie ein Blitz über ihn gekommen war und ihn in den Wahnsinn getrieben hatte. Yves beschwor ihn keuchend und unablässig, aber es hatte keinen Sinn. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit ihm zu gehen. Er packte den schwarzen Ärmel mit festem Griff und versuchte, mit Bruder Elyas Schritt zu halten. Wenn sie an einem Haus vorbeikamen oder jemandem begegneten, der so spät noch unterwegs war, konnte er um Hilfe bitten. Irgendwann mußte der Kranke ja einmal ermüden und sich jeder Hilfe überlassen, die ihm angeboten wurde. Aber wer würde in einer solchen Nacht schon draußen sein? Nur ein armer Verrückter und sein Pfleger! Doch er hatte selbst angeboten, sich um Bruder Elyas zu kümmern und er würde ihn jetzt nicht im Stich lassen. Und wenn er ihn schon nicht vor sich selbst schützen konnte, so wollte er wenigstens die Strafe dafür mit ihm teilen. Und seltsam: bald schon bewegten sie sich wie eine einzige Person und obwohl sein Gesicht ausdruckslos blieb und seine Gedanken nicht verriet, legte Bruder Elyas einen Arm um Yves Schultern und zog ihn an sich. Sie tauschten jene kleinen, instinktiven Gesten aus, die gegenseitige Zuneigung ausdrücken und linderten so die Mühsal des Gehens, die Kälte und das Gefühl der Einsamkeit.
Yves hatte keine Ahnung, wo sie waren, aber er wußte, daß sie schon vor langem die Straße verlassen hatten. Er glaubte, daß sie eine Brücke überquert hatten und das konnte keine andere gewesen sein als die über den Corve. Also waren sie auf dem Weg ins Hochland. Da hatten sie schlechte Aussichten, ein Haus zu finden, selbst wenn der Schneefall aufhörte und sie sehen konnten, wohin sie gingen.
Aber Bruder Elyas schien den Weg zu kennen oder zu jenem Ort geleitet zu werden, den aufzusuchen ihm keine andere Wahl blieb, mit einem schrecklichen, bußfertigen Entschluß im Herzen, den nur er kannte. Ein unter Schnee begrabenes Dickicht von Dornbüschen riß an ihren Kleidern. Es umschloß eine flache Mulde im Hang. Yves stolperte gegen etwas Hartes, Dunkles und schürfte seine Knöchel an rauhem Holz auf. Es war eine niedrige aber solide Hütte, die Schafhirten mit trächtigen Schafen Unterschlupf gewähren sollte und außerdem zur Lagerung von Heu und Stroh diente. Die Tür war mit einem schweren Riegel verschlossen, aber Bruder Elyas zog ihn auf und öffnete sie. Sie traten hinein ins Dunkel. Elyas mußte sich bücken, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. Der Wind schob die Tür zu. Sie schloß dicht und plötzlich war es um sie dunkel und verhältnismäßig still. Nach dem Schneesturm war es hier drinnen fast warm, und der Duft alten aber trockenen Heus, das unter ihren Füßen raschelte, versprach ein warmes Lager. Yves schüttelte den Schnee von seinen Kleidern und schöpfte neue Hoffnung. Hier konnte Bruder Elyas die Nacht überleben. Und morgen, bevor er aufwacht, dachte der Junge, kann ich mich hinausschleichen, die Tür verriegeln und jemanden suchen, der mir hilft oder mit einer Nachricht zum Kloster geht. Bis hierhin bin ich mit ihm gegangen und jetzt werde ich ihn nicht wieder verlieren.
Bruder Elyas war zurückgetreten. Yves hörte das Raschein des Heus, als der Mann sich darauf niederließ. Das Heulen des Sturmes wurde immer leiser, bis es nur noch ein klagendes Stöhnen war. Eine Hand ausgestreckt kroch Yves voran, bis er die schneebedeckte Schulter des Mönches berührte. Der Pilger hatte seinen seltsamen Schrein erreicht und lag auf den Knien.
Yves strich den Schnee von der schwarzen Kutte und bemerkte, daß Elyas zitterte, als unterdrücke er mit aller Kraft ein tiefes, verzweifeltes Schluchzen. Hier,
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