Die Jungfrau im Lavendel
auf einmal eine Mutter. Man muß sich das vorstellen, achtzehn Jahre alt, und dann bekommt man eine Mutter.«
»Angenommen, es ist so, wie Sie vermuten«, sagte die Oberin, »warum hat sie denn das nicht geschrieben in ihrem Brief?« Denn Virginias lapidare Zeilen, aus Mailand gekommen, lagen natürlich auch auf dem Tisch.
Mailand war verwirrend, denn Anitas Brief war aus Frankreich gekommen.
»Ich muß es jetzt wissen«, sagte Juschi. »Ich seh schon, ich muß mich weiter drum kümmern.«
»Das würden Sie wirklich tun?« fragte die Oberin erleichtert. »Es paßt so gar nicht zu Virginia, was da geschehen ist. Man konnte es einfach nicht glauben.«
»Ich fahr nach Frankreich«, erklärte Juschi entschieden.
»Gott segne Sie«, sagte die Oberin.
Juschi fuhr zunächst nach München zurück. Natürlich mußte sie das alles erst mit ihrem Mann besprechen, Geld und ein wenig Gepäck brauchte sie schließlich auch.
Zu Hause war Clemens eben aus den USA zurückgekehrt und wirkte ein wenig ermüdet, harte Arbeitstage und der Rückflug zeigten ihre Wirkung.
»Hörst du mir eigentlich zu?« fuhr Juschi ihn an, als ihm während ihres ausführlichen Berichtes einige Male die Augendeckel herunterklappten.
»Jedes Wort«, sagte Clemens und gähnte. »Eine echte Räuberpistole. Wie es immer so schön heißt, das Leben schreibt die besten Romane.«
»Das ist kein Roman. Das arme Kind ist entführt worden.«
»Na ja, so sicher ist das nicht«, widersprach ihr Mann. »Möglicherweise ist sie einfach abgehaun.«
»Mit einem wildfremden Mann? Einem Italiener dazu?«
»Von der Mutter geschickt.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ihr Brief kam aus Mailand.«
»Liegt, soviel ich weiß, in Italien«, sagte ihr Sohn.
»Und die Mutter, diese verdammte Anita, hat aus Frankreich geschrieben. Hier …«, Juschi schwenkte den Brief Anitas. »Hier steht die Adresse drauf. Mas … Mas Maurice, Cap d'Antibes. Was soll man sich denn darunter vorstellen?«
»Mas heißt Haus auf provençalisch. Kann sich ebensogut um ein Hotel handeln. Da war sie, und da ist sie jetzt nicht mehr.«
»Jedenfalls fahre ich morgen dahin.«
»Was?« fragten die beiden Männer wie aus einem Mund.
»Ich fahre dahin. Ich muß wissen, ob Anita dort ist oder dort war, und ich muß wissen, was aus dem armen Mädchen geworden ist.«
»Gott soll schützen«, sagte Clemens und ließ sich tiefer in seinen Sessel rutschen.
»Und wie stelltst du dir das vor?« fragte ihr Mann. »Du fährst dahin, dann stehst du vor dem Tor, und weder Anita ist da, noch das Mädchen.« Er nahm jetzt auch den Brief in die Hand.
»Henriques – das klingt irgendwie spanisch.«
»Portugiesisch«, wußte Clemens. »Es kann sich nur um einen südamerikanischen Mädchenhändlerring handeln.«
»Ach verdammt«, rief Juschi und sprang wütend auf. »Ihr nehmt mich nicht ernst. Ich muß das einfach jetzt wissen. Ich habe das angefangen, und nun führe ich es auch zu Ende.«
»Erst schläfst du dich mal aus«, sagte Ludwig. »Morgen reden wir weiter darüber.«
»Da gibt es nicht mehr viel zu reden. Oder wenn, tun wir es gleich. Ich bin nicht müde.«
»Doch, Juschimama, du bist müde. Du bist heute eine weite Strecke gefahren. Du bist müde, ich bin mehr als müde, und ich mache dir einen Vorschlag. Ich schlafe mich mal so richtig aus, Datengrenze, ist ja bekannt, und dann schreibe ich meinen Bericht, einen Teil habe ich schon im Flugzeug konzipiert, und dann fahre ich mit dir in de Gaulles zur Zeit leicht ramponiertes Frankreich.«
»Du – fährst mit?«
»Klar. Paar Tage Urlaub sind gerade das, was ich brauche. Wir fahren schön gemütlich an die liebliche Côte d'Azur, zur Zeit wahrscheinlich überschwemmt von Touristen. Vielleicht aber auch nicht so sehr, Frankreich, wie gesagt, hampelt sich am Rande einer Revolution entlang.«
»Ja, es muß schlimm gewesen sein im Mai«, gab Juschi zu, »das hat deine französische Freundin uns erzählt.«
»Direkt 'ne Freundin ist sie nicht. Mehr eine Kollegin.«
»Du willst wirklich mit mir fahren?«
Clemens stand auf, umarmte seine Mutter und küßte sie zärtlich. »Wenn du mich jetzt schlafen gehen läßt, fahre ich mit dir zu Teufels Großmutter. Aber erst übermorgen. Und mit einmal übernachten unterwegs, ja? Ich bin auch nur ein Mensch, wenn auch ein besonders tüchtiger. Und dann werden wir mal sehen, ob wir diese gefährliche Dame Anita und die entführte Jungfrau irgendwo auftreiben. Vielleicht sind sie auch schon in
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