Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Jury

Titel: Die Jury Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
den Stadträten bestechen ließ. Ich glaube, wir hatten recht.«
    Carl Lee atmete tief durch und massierte seine Schläfen.
    »Ich habe Marscharfskis berufliche Laufbahn verfolgt«, fuhr der Reverend fort. »Er steht in dem Ruf, Gangster, Diebe und andere Halunken zu verteidigen. Sie sind alle schuldig, aber manchmal gelingt es ihm, für den einen oder anderen Angeklagten einen Freispruch zu erwirken. Wenn man seine Klienten sieht, so weiß man sofort, daß sie schuldig sind. Deshalb bin ich so sehr besorgt. Ich fürchte, man wird Sie für schuldig halten, wenn Sie mit Marscharfski vor Gericht erscheinen.«
    Carl Lee ließ den Kopf hängen und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Wer hat Sie gebeten, mich hier zu besuchen?« fragte er leise.
    »Ich habe mit einem alten Freund gesprochen.«
    »Wer?«
    »Nur ein alter Freund, der ebenfalls sehr besorgt ist. Wie wir alle.«
    »Marscharfski gilt als bester Anwalt in Memphis.«
    »Aber wir sind hier nicht in Memphis, oder?«
    »Ein Spezialist fürs Strafrecht.«
    »Vielleicht deshalb, weil er zu den Verbrechern gehört.«
    Carl Lee stand abrupt auf, wanderte durchs Zimmer und kehrte Isaiah Street den Rücken zu.
    »Er kostet mich nichts. Ich bezahle keinen Cent.«
    »Sein Honorar spielt kaum mehr eine Rolle, wenn Sie in der Todeszelle sitzen.«
    Einige Sekunden verstrichen, und beide Männer schwiegen. Schließlich senkte der Reverend seinen Spazierstock und erhob sich mühsam. »Ich habe genug gesagt und gehe jetzt. Viel Glück, Carl Lee.«
    Hailey schüttelte den Kopf. »Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen und danke Ihnen für den Besuch.«
    »Um ganz offen zu sein: Ihr Fall ist schon schwierig genug. Machen Sie ihn nicht noch schwieriger, indem Sie sich von einem Rechtsverdreher wie Marscharfski vertreten lassen.«
    Lester verließ Chicago am Freitag kurz vor Mitternacht. Er fuhr nach Süden, und zwar allein – wie üblich. Seine Frau war vor einigen Stunden in Richtung Norden aufgebrochen, um das Wochenende bei ihren Eltern in Green Bay zu verbringen. Lester mochte Green Bay nicht, und die Schwedin fand Mississippi abscheulich; deshalb verzichteten sie meistens darauf, zusammen die jeweiligen Familien zu besuchen. Die Eltern seiner Frau waren nett und behandelten ihn wie einen Sohn. Aber sie unterschieden sich von ihm – und nicht nur aufgrund ihrer Hautfarbe. Er kannte Weiße aus dem Süden. Nicht alle gefielen ihm – von ihren Ansichten ganz zu schweigen –, aber wenigstens wußte er über sie Bescheid. Die Weißen im Norden hingegen, insbesondere jene schwedischer Abstammung, waren völlig anders. Ihre Bräuche, ihre Ausdrucksweise, das Essen – fast alles erschien ihm fremdartig. In ihrer Gesellschaft fühlte er sich nie wohl.
    Eine Scheidung bahnte sich an, wahrscheinlich innerhalb des nächsten Jahres. Er war Schwarzer. Die ältere Kusine seiner Frau hatte Anfang der siebziger Jahre einen Schwarzen geheiratet und dadurch viel Aufsehen erregt. Lester war für die Schwedin wohl nur eine Marotte gewesen, die langsam an Reiz verlor. Zum Glück gab's keine Kinder. Er vermutete einen Liebhaber. Nun, auch er hatte jemand anderes – und er erinnerte sich an Iris' Versprechen, Henry zu verlassen, ihn zu heiraten und nach Chicago umzuziehen.
    Nach Mitternacht sahen beide Seiten der Interstate 57 gleich aus: hier und dort Lichter kleiner Farmen, gelegentlich ein größerer Ort wie Champaign oder Effingham. Lester lebte und arbeitete im Norden, aber dies war seine Heimat. Er fühlte sich dort zu Hause, wo die Mutter wohnte, in Mississippi. Gleichzeitig wußte er, daß er nie zurückkehren würde. Zuviel Dummheit, zuviel Armut. Der Rassismus kümmerte ihn kaum: Er war nicht mehr so schlimm wie früher, und außerdem hatte er sich daran gewöhnt. Die Rassendiskriminierung blieb fest in der amerikanischen Gesellschaft verankert, doch sie wurde weniger offensichtlich. Den Weißen gehörte noch immer alles, und sie übten maßgebliche Kontrolle aus, woran es eigentlich gar nichts auszusetzen gab. Solche Dinge änderten sich nie. Als unerträglich empfand Lester in erster Linie Unwissenheit, Armut und Elend vieler Schwarzer: schäbige Holzhäuser, hohe Sterblichkeitsraten bei Neugeborenen, Arbeitslosigkeit, viele alleinstehende Mütter, die Mühe hatten, ihre Kinder zu ernähren. Diese Situation war so deprimierend, daß er schließlich wie viele tausend andere aus Mississippi geflohen war und sich im Norden einen Job gesucht hatte, einen relativ gut bezahlten Job, der

Weitere Kostenlose Bücher