Die Jury
schloß die Tür. Jean nahm hinter dem Schreibtisch Platz und zeigte mit dem Finger auf Jake. Der Anwalt lächelte noch immer.
»Ich weiß, warum Sie hier sind«, sagte sie streng. »Und die Antwort lautet: nein.«
»Geben Sie mir die Liste, Jean.«
»Erst am Mittwoch. Richterliche Anordnung.«
»Mittwoch? Warum ausgerechnet Mittwoch?«
»Keine Ahnung. Fragen Sie Noose.«
»Geben Sie mir die Liste, Jean.«
»Unmöglich, Jake. Wollen Sie mich in Schwierigkeiten bringen?«
»Sie geraten nicht in Schwierigkeiten, weil niemand davon erfahren wird. Sie wissen, daß ein Geheimnis bei mir gut aufgehoben ist.« Brigance lächelte jetzt nicht mehr. »Geben Sie mir die verdammte Liste, Jean.«
»Nein, Jake. Ausgeschlossen.«
»Ich brauche sie, und ich brauche sie jetzt. Ich muß mich auf den Prozeß vorbereiten und kann nicht bis Mittwoch warten.«
»Es wäre Buckley gegenüber nicht fair«, sagte die Protokollführerin hilflos.
»Zum Teufel mit Buckley. Glauben Sie etwa, er hält sich an die Gebote der Fairneß? Er ist eine Schlange, und Sie verabscheuen ihn ebensosehr wie ich.«
»Vielleicht noch mehr.«
»Geben Sie mir die Liste, Jean.«
»Hören Sie, Jake, wir standen uns immer sehr nahe. Sie sind mir sympathischer als alle anderen Anwälte. Als mein Sohn Probleme hatte, rief ich Sie an, nicht wahr? Ich vertraue Ihnen und möchte, daß Sie den Prozeß gewinnen. Aber ich darf mich nicht über die Anweisungen des Richters hinwegsetzen.«
»Wer hat Ihnen bei der letzten Wahl geholfen – Buckley oder ich?«
»Ich bitte Sie, Jake.«
»Wer sorgte dafür, daß Ihr Sohn nicht ins Gefängnis kam – Buckley oder ich?«
»Bitte...«
»Wer hat versucht, Ihren Sohn hinter Gitter zu bringen – Buckley oder ich?«
»Hören Sie auf damit, Jake.«
»Wer trat für Ihren Mann ein, als die Abrechnungen nicht stimmten und ihn alle – ich meine alle – aus der Kirche verstoßen wollten?«
»Es ist keine Frage der Loyalität, Jake. Ich mag Sie, Carla und Hanna, aber ich darf Ihnen die Liste nicht geben.«
Jake verließ das Zimmer mit langen Schritten und warf die Tür hinter sich zu. Jean saß am Schreibtisch und wischte sich Tränen von den Wangen.
Um zehn Uhr stapfte Harry Rex in Jakes Büros und warf eine Kopie der Geschworenenliste auf den Tisch. »Stellen Sie keine Fragen«, sagte er. Neben jedem Namen standen knappe Anmerkungen, zum Beispiel »Kenne ich nicht«; »Früherer Klient, haßt Nigger« oder »Arbeitet in der Schuhfabrik; hat vielleicht Verständnis«.
Jake las die einzelnen Namen sorgfältig und versuchte, sich die betreffenden Personen vorzustellen, eine Meinung oder Gesichter mit ihnen in Verbindung zu bringen. Es fehlten Angaben über Adresse, Alter und Beruf. Nur Namen. Eine Schullehrerin aus Karaway; er war bei ihr in die vierte Klasse gegangen. Eine Freundin seiner Mutter aus dem Gartenklub. Ein früherer Mandant; Ladendiebstahl, wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog. Jemand von der Kirche. Ein Stammgast des Cafés. Ein prominenter Farmer. Die meisten Namen klangen weiß – Willie Mae Jones, Leroy Washington, Roosevelt Tucker, Bessie Lou Bean –, nur wenige schwarz. Eine erschreckend blasse Liste. Jake kannte höchstens dreißig der insgesamt hundertfünfzig genannten Männer und Frauen.
»Was meinen Sie?« brummte Harry Rex.
»Schwer zu sagen. Überwiegend Weiße, aber das war zu erwarten. Woher stammt die Kopie?«
»Fragen Sie nicht. Sechsundzwanzig Namen habe ich mit knappen Kommentaren versehen. Bei den übrigen muß ich passen.«
»Sie sind ein wahrer Freund, Harry Rex.«
»Ich weiß. Alles klar für den Prozeß?«
»Noch nicht. Aber ich habe eine Geheimwaffe gefunden.«
»Was?«
»Sie lernen sie später kennen.«
»Sie?«
»Ja. Sind Sie Mittwoch abend beschäftigt?«
»Ich glaube nicht. Warum?«
»Gut. Wir treffen uns hier um acht. Lucien kommt. Vielleicht noch ein oder zwei andere. Ich möchte einige Stunden lang über die Jury sprechen. Wer eignet sich für uns? Wir gehen von dem besten denkbaren Geschworenen aus und befassen uns auf dieser Grundlage mit allen Namen. Hoffentlich gelingt es uns, die meisten Leute zu identifizieren.«
»Klingt gut. Ich mache mit. Wen stellen Sie sich als besten denkbaren Geschworenen vor?«
»Das weiß ich nicht genau. Die Selbstjustiz übt sicher einen gewissen Reiz auf die Rednecks aus. Waffen, Gewalt, Frauen beschützen und so weiter. Davon sind Rednecks begeistert. Andererseits hat mein Klient zwei von ihnen umgebracht und ist noch
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