Die Jury
hatte noch nicht einmal begonnen. Auf dem Konferenztisch breitete er den Inhalt der Carl-Lee-Hailey-Akte aus. Sie war von Ellen sortiert und mit Indizes versehen worden, doch Jake wollte sie in ihre Einzelteile zerlegen und anschließend wieder zusammensetzen. Bestimmte Unterlagen mußte er innerhalb von dreißig Sekunden finden können, sonst nützten sie ihm nichts. Er lächelte über das Organisationstalent seiner Assistentin. Sie hatte alles säuberlich aufgelistet, und es waren höchstens zehn Sekunden nötig, um einzelne Dokumente ausfindig zu machen. Ein gut zwei Zentimeter dickes, mit drei Ringen ausgestattetes Notizbuch enthielt eine Zusammenfassung von Dr. Bass' Qualifikationen sowie eine kurze Darstellung seiner Aussage. Anmerkungen wiesen auf mögliche Einwände des Staatsanwalts hin und führten Präzedenzfälle an, um ihnen Paroli zu bieten. Jake war stolz auf seine guten Prozeßvorbereitungen, doch er empfand es als demütigend, von einer Studentin im dritten Studienjahr zu lernen.
Sorgsam verstaute er die Akte in dem Koffer, den er vor Gericht benutzte: Er bestand aus schwarzem Leder, und an der einen Seite glänzten seine Initialen in Gold. Einige Minuten später mußte er dem Ruf der Natur folgen, saß auf der Toilette und ging die Karteikarten durch. Er kannte alle Vorgeladenen und hielt sich für gewappnet.
Kurz nach fünf klopfte Harry Rex an die Tür. Es war noch dunkel, und er sah wie ein Einbrecher aus.
»Warum sind Sie so früh auf den Beinen?« fragte Jake.
»Ich konnte nicht schlafen. Bin ein wenig nervös.« Er hob eine große Papiertüte mit Fettflecken. »Aus dem Café. Frisch und heiß. Brötchen mit Wurst, Käse und Schinken, Käse und Hühnerfleisch. Freie Auswahl. Dell macht sich Sorgen um Sie.«
»Danke, Harry Rex, aber ich habe keinen Appetit. Mein Magen rebelliert.«
»Nervös?«
»Wie eine Hure in der Kirche.«
»Sie sehen ziemlich mitgenommen aus.«
»Danke.«
»Aber der Anzug ist nicht übel.«
»Carla hat ihn gekauft.«
Harry Rex griff in die Tüte und holte mehrere mit Alufolie umwickelte Brötchen hervor. Er legte sie auf den Konferenztisch und füllte eine Tasse mit Kaffee. Jake setzte sich auf die andere Seite und blätterte in Ellens M'Naghten-Bericht.
»Ihre Assistentin hat das geschrieben?« fragte Harry Rex mit vollem Mund. Er kaute hingebungsvoll.
»Ja. Fünfundsiebzig Seiten über die Verteidigung bei Fällen von Unzurechnungsfähigkeit in Mississippi. Sie hat drei Tage dafür gebraucht.«
»Scheint sehr intelligent zu sein.«
»Es mangelt ihr nicht an Grips, und sie schreibt sehr flüssig. Der Intellekt ist da, aber es fällt ihr schwer, ihre Kenntnisse auf die reale Welt anzuwenden.«
»Was wissen Sie über Row Ark?« Krümel fielen von Harry Rex' Lippen und tanzten über den Tisch. Er strich sie mit dem Ärmel fort.
»Sie hat was auf dem Kasten. Ist die Nummer zwei ihres Jahrgangs in Ole Miss. Ich habe mit Nelson Battles telefoniert, dem stellvertretenden Dekan der juristischen Fakultät, und er lobte sie sehr. Vielleicht schließt sie ihr Studium als Nummer eins ab.«
»Ich habe die Universität als dreiundneunzigster von achtundneunzig verlassen. Nun, ich hätte es auch als zweiundneunzigster schaffen können, aber bei einem Examen wurde ich mit einem Spickzettel ertappt. Zuerst wollte ich protestieren, aber dann dachte ich mir – was spielt's für eine Rolle, ob man auf dem zweiundneunzigsten oder dreiundneunzigsten Platz steht? Ist in jedem Fall ziemlich weit hinten. Und gibt es jemanden in Clanton, der sich um so etwas schert? Die Leute in der Stadt waren froh, daß ich nach dem Studium zurückkehrte, um hier zu praktizieren, anstatt für irgendeine Wall-Street-Kanzlei zu arbeiten.«
Jake lächelte. Er hatte diese Geschichte schon hundertmal gehört.
Harry Rex wickelte ein Brötchen mit Käse und Hühnerfleisch aus. »Sie wirken ziemlich beunruhigt, mein Bester.«
»Ich bin okay. Der erste Tag ist immer besonders schlimm. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Von mir aus kann's losgehen. Jetzt geht es nur noch darum, ein wenig Geduld zu haben.«
»Wann kommt Row Ark?«
»Keine Ahnung.«
»Meine Güte. Ich frage mich, was sie heute trägt.«
»Oder nicht trägt. Ich hoffe nur, daß sie anständige Kleidung wählt. Sie wissen ja, wie prüde Noose sein kann.«
»Sie haben doch nicht vor, ihr einen Platz am Tisch der Verteidigung zu geben, oder?«
»Nein. Ellen soll im Hintergrund bleiben, ebenso wie Sie. Einige der weiblichen
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