Die Jury
auf den Hörer. »Sind Sie verletzt?« fragte er nicht ohne Anteilnahme.
»Hat man jemals auf Sie geschossen, Richter?«
»Nein.«
»Haben Sie jemals gesehen, wie man auf jemanden schoß? Haben Sie gehört, wie der Getroffene schrie?«
»Nein.«
»Hatten Sie jemals das Blut eines anderen Mannes an der Jacke?«
»Nein.«
»Sie müssen heute auf mich verzichten.«
Noose zögerte und dachte einige Sekunden lang nach. »Ich schlage vor, wir treffen uns in meinem Büro und reden darüber.«
»Nein. Ich verlasse meine Praxis nicht. Draußen ist es zu gefährlich.«
»Und wenn wir mit dem Beginn der heutigen Verhandlung bis um eins warten? Fühlen Sie sich dann besser?«
»Bis dahin bin ich betrunken.«
»Was?«
»Bis dahin bin ich blau.«
Harry Rex hob die Hände vors Gesicht. Ellen ging zur Küche. »Und wann sind Sie wieder nüchtern?« fragte Noose streng. Ozzie und Buckley sahen sich an.
»Am Montag.«
»Und morgen?«
»Morgen ist Samstag.«
»Ja, ich weiß. Und ich hatte vor, den Prozeß morgen fortzusetzen. Wir müssen auch an die Geschworenen denken, die zu ihren Familien zurückkehren möchten.«
»Na schön. Morgen früh bin ich bereit.«
»Das freut mich. Was soll ich jetzt der Jury sagen? Die Männer und Frauen warten im Nebenzimmer. Der Gerichtssaal ist wie üblich überfüllt. Ihr Klient sitzt allein am Tisch der Verteidigung. Was teile ich diesen Leuten mit?«
»Ihnen fällt bestimmt etwas ein, Richter. Ich habe Vertrauen zu Ihnen.« Jake legte auf. Noose horchte, bis er sich der Erkenntnis stellen mußte, daß Brigance tatsächlich die Verbindung unterbrochen hatte. Er reichte den Hörer Ozzie.
Euer Ehren sah aus dem Fenster und nahm die Brille ab. »Jake kommt heute nicht.«
Buckley schwieg erstaunlicherweise.
»Er ist ziemlich erschüttert«, entschuldigte Ozzie den Anwalt. »Trinkt er?«
»Jake rührt keinen Alkohol an«, entgegnete der Sheriff. »Er ist nur bestürzt darüber, daß es den Gardisten erwischt hat. Der Mann stand direkt neben ihm und fing sich die für Jake bestimmte Kugel ein. So was bringt jeden aus der Fassung.«
»Er möchte, daß wir den Prozeß auf morgen früh vertagen«, wandte sich Noose an Buckley, der mit den Schultern zuckte und weiterhin still blieb.
Als sich die Sache herumsprach, begann reges Treiben auf dem Bürgersteig vor Jakes Praxis.
Die Presse schlug dort ihr Lager auf und spähte durch die Fenster, in der Hoffnung, irgendwelche interessanten und berichtenswerten Dinge zu entdecken. Freunde kamen vorbei und erfuhren von den Journalisten, der Anwalt hätte sich im Innern des Gebäudes verbarrikadiert. Nein, er war nicht verletzt.
Dr. Bass hatte am Freitagmorgen aussagen sollen. Er und Lucien kamen einige Minuten nach zehn durch die Hintertür herein. Harry Rex eilte zum Spirituosenladen.
Angesichts des vielen Schluchzens war das Telefongespräch mit Carla recht schwer gewesen. Jake hatte seine Frau nach drei Drinks angerufen und gemeint, es stünde alles ganz gut. Dann sprach er mit ihrem Vater und erklärte, er sei sicher und unverletzt; die halbe Nationalgarde von Mississippi hätte den Auftrag erhalten, ihn zu beschützen. »Bitte sorg dafür, daß sich Carla beruhigt«, fügte er hinzu. »Ich melde mich später noch einmal.«
Lucien war außer sich. Er hatte sich sehr bemüht, am Donnerstag abend alle hochprozentigen Getränke von Bass fernzuhalten, damit er am Freitag nüchtern aussagen konnte, aber er hielt es für völlig unmöglich, ihn zwei Tage hintereinander trockenzulegen. Außerdem dachtet er an die vielen am Freitag verpaßten Drinks, und dieser Gedanke weckte Zorn in ihm.
Harry Rex kehrte mit mehreren Litern zurück. Er und Ellen mixten Drinks und stritten sich über die richtigen Zutaten. Row Ark spülte die Kaffeekanne, füllte sie mit Bloody Mary und schüttete schwedischen Wodka hinterher. Harry Rex gab eine großzügige Portion Tabasco hinzu. Anschließend schritt er durchs Konferenzzimmer und füllte Gläser mit der nervenberuhigenden Mischung.
Dr. Bass schluckte eifrig und bat um mehr. Lucien und Harry Rex sprachen über die mutmaßliche Identität des Schützen. Die wortlose Ellen beobachtete Jake, der in der Ecke saß und zu den Bücherregalen starrte.
Das Telefon klingelte. Harry Rex nahm ab und lauschte eine Zeitlang. Nach einer Weile legte er auf und sagte: »Das war Ozzie. Der angeschossene Gardist schwebt nicht mehr in Lebensgefahr. Die Kugel steckt an der Halswirbelsäule fest. Wahrscheinlich bleibt er für
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