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Die Jury

Titel: Die Jury Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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hatte sich längst daran gewöhnt, daß er meist spät heimkehrte. Sie nahmen das Abendessen ein, wenn er nach Hause kam, ganz gleich ob um sechs oder um zehn.
    Jake fuhr vom Gefängnis zu seinem Büro. Er wagte es nicht, Lester anzurufen, wenn die Gefahr bestand, daß Carla zuhörte. In seinem Arbeitszimmer nahm er am Schreibtisch Platz und starrte auf die beiden von Tank notierten Nummern. Carl Lee hatte ihm ausdrücklich untersagt, mit Lester zu telefonieren. Gab es einen Grund, trotzdem mit ihm zu reden? Kam es Abwerbung gleich? Verstieß er gegen das Berufsethos? War es unethisch, Lester anzurufen und ihm mitzuteilen, daß Carl Lee seinen früheren Anwalt gefeuert hatte, um sich von jemand anderem vertreten zu lassen? Nein. Und Lesters Fragen über den neuen Anwalt zu beantworten? Nein. Und Besorgnis zum Ausdruck zu bringen? Nein. Und den neuen Anwalt zu kritisieren? Wahrscheinlich nicht. War es unethisch, Lester nahezulegen, mit seinem Bruder zu sprechen? Nein. Um ihn davon zu überzeugen, Marscharfski den Laufpaß zu geben? Wahrscheinlich ja. Und sich erneut an Jake zu wenden? Ja, zweifellos. Das war sogar sehr unethisch. Und wenn er Lester einfach nur anrief, über Carl Lee plauderte und dem Gespräch seinen Lauf ließ?
    »Hallo?«
    »Ist bei Ihnen ein Lester Hailey zu erreichen?«
    »Ja«, erklang ein schwedischer Akzent. »Wer möchte mit ihm reden?«
    »Jake Brigance aus Mississippi.«
    »Einen Augenblick.«
    Jake sah auf die Uhr. Halb neun. In Chicago war es genauso spät, oder?
    »Jake!«
    »Wie geht's Ihnen, Lester?«
    »Gut. Ich bin nur ein bißchen müde. Was ist mit Ihnen?«
    »Alles bestens. Haben Sie in dieser Woche mit Carl Lee gesprochen?«
    »Nein. Ich bin am Freitag gefahren, und seit Sonntag schiebe ich Doppelschichten. Mir bleibt für nichts mehr Zeit.«
    »Haben Sie die Zeitungen gelesen?«
    »Nein. Was ist passiert?«
    »Sie werden es mir nicht glauben, Lester.«
    »Heraus damit, Jake.«
    »Carl Lee hat mich gefeuert und läßt sich jetzt von einem bekannten Anwalt aus Memphis vertreten.«
    »Was? Soll das ein Witz sein? Wann?«
    »Vergangenen Freitag. Kurz nachdem Sie heimfuhren, nehme ich an. Er hielt es nicht für nötig, mir Bescheid zu geben. Ich erfuhr es am Samstagmorgen aus der Memphis-Zeitung.«
    »Der Kerl ist übergeschnappt. Warum hat er eine solche Entscheidung getroffen? Wer vertritt ihn jetzt?«
    »Kennen Sie jemanden namens Cat Bruster?«
    »Natürlich.«
    »Sein Anwalt verteidigt Ihren Bruder. Cat bezahlt ihn dafür. Am letzten Freitag fuhr er von Memphis nach Clanton und besuchte Carl Lee im Gefängnis. Am nächsten Morgen sah ich mein Bild in der Zeitung und las, daß ich mit dem Fall nichts mehr zu tun habe.«
    »Wie heißt der neue Anwalt?«
    »Bo Marscharfski.«
    »Taugt er was?«
    »Er ist ein Gauner. Verteidigt Drogenhändler und andere Halunken in Memphis.«
    »Klingt nach einem Polacken.«
    »Da haben Sie genau den richtigen Eindruck gewonnen. Ich glaube, er stammt aus Chicago.«
    »Ja, hier wimmelt's überall von Polacken. Redet er wie einer?«
    »Er redet so, als hätte er heißes Fett im Mund. Damit macht er hier in Ford County bestimmt einen Rieseneindruck.«
    »Wie verdammt dumm von Carl Lee. Er ist nie besonders helle gewesen. Mußte immer für ihn denken. Dumm, dumm.«
    »Ja, ein großer Fehler, Lester. Sie wissen, wie Mordprozesse sind. Schließlich haben Sie selbst einen hinter sich. Daher dürfte Ihnen klar sein, daß alles von den Geschworenen abhängt, wenn sie sich in die Beratungskammer zurückziehen. Zwölf Einheimische, die den Fall diskutieren, über Leben und Tod befinden. Die Jury ist der wichtigste Teil des ganzen Verfahrens. Deshalb muß man in der Lage sein, ihre Sympathie zu gewinnen, sie zu überzeugen.«
    »Da haben Sie völlig recht, Jake. Sie sind dazu fähig.«
    »Ebenso wie Marscharfski – in Memphis, aber nicht hier bei uns. Nicht hier in der Provinz von Mississippi. Die Geschworenen werden ihm mißtrauen.«
    »Ja, Jake. Ich kann es einfach nicht fassen. Mein Bruder muß durchgedreht sein.«
    »Das fürchte ich auch, Lester. Ich bin sehr besorgt.«
    »Haben Sie mit ihm gesprochen?«
    »Am Samstag las ich den Artikel in der Zeitung, und anschließend bin ich sofort zum Gefängnis gefahren. Ich verlangte eine Erklärung von Carl Lee, aber er lehnte ab und war sehr verlegen. Seitdem bin ich nicht mehr bei ihm gewesen. Und Marscharfski hat seinem Klienten noch keinen Besuch abgestattet. Offenbar sucht er Clanton nach wie vor auf der

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