Die Jury
gestern unterhalten.«
Ozzie wirkte besorgt und musterte Jake aufmerksam. »Möchten Sie zu ihm?«
»Zu wem?«
»Carl Lee.«
»Nein! Es gibt keinen Grund für mich, mit ihm zu reden.« Jake sah in seinem Aktenkoffer nach. »Ich bin hier, um einem gewissen Leroy Glass einige Fragen zu stellen. Man wirft ihm schwere Körperverletzung vor.«
»Sie vertreten Leroy?«
»Ja. Heute morgen hat man mich mit seiner Verteidigung beauftragt.«
»Folgen Sie mir.«
Jake wartete im Zimmer mit dem Meßgerät, das zur Feststellung des Alkoholgehalts im Blut von Betrunkenen diente. Ein Kalfakter holte seinen neuen Klienten. Leroy trug die übliche Gefängniskleidung: einen fluoreszierenden orangefarbenen Overall. Auf seinem Kopf standen rosarote Haarstacheln in allen Richtungen ab, und am Hinterkopf zeigten sich zwei ölig glänzende Irokesenkämme. Die schwarzen Füße steckten in zitronengrünen Frotteesandalen. Socken fehlten. Am rechten Ohrläppchen begann eine alte Narbe, reichte über die Wange und endete am rechten Nasenloch. Sie bewies eindeutig, daß Leroy nicht die erste Messerstecherei hinter sich hatte. Er trug die Narbe wie eine Auszeichnung und rauchte Kools.
»Ich bin Jake Brigance«, stellte sich der Anwalt vor und deutete auf einen Stuhl neben dem Pepsi-Automaten. »Ihre Mutter und Ihr Bruder baten mich heute morgen, Sie vor Gericht zu vertreten.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Jake.«
Ein Kalfakter wartete neben der Tür im Flur, als Jake Leroy Glass befragte und drei Seiten mit Notizen füllte. Zunächst hieß der wichtigste Punkt: Geld. Wieviel hatte er und wieviel mehr konnte Leroy auftreiben? Später gab es noch genug Zeit, um über die Anklage zu reden. Tanten, Onkel, Brüder, Schwestern, Freunde – wer war imstande, einen Kredit aufzunehmen? Jake notierte sich Telefonnummern.
»Wer gab Ihnen den Rat, sich an mich zu wenden?«
»Ich habe Sie im Fernsehen gesehen, Mr. Jake. Sie und Carl Lee Hailey.«
Diese Bemerkung erfüllte Jake mit Stolz, aber er lächelte nicht. Das Fernsehen war Teil seines Jobs. »Kennen Sie Carl Lee?«
»Ja, und auch Lester. Sie haben Lester verteidigt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Man hat mich in Carl Lees Zelle untergebracht. Bin gestern abend umgezogen.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Er spricht nicht viel. Einmal meinte er, daß Sie ein guter Anwalt wären. Aber er läßt sich jetzt von jemand aus Memphis vertreten.«
»Das stimmt. Was hält er von seinem neuen Verteidiger?«
»Keine Ahnung, Mr. Jake. Heute morgen war er ziemlich sauer, weil ihn der Typ noch nicht besucht hat. Er sagte, Sie seien immer gekommen, um mit ihm über den Fall zu reden, aber der neue Anwalt – hat einen komischen Namen – glänzt bisher durch Abwesenheit.«
Jake verbarg seine Schadenfreude, indem er ein grimmiges Gesicht schnitt. Es fiel ihm sehr schwer, nicht zu schmunzeln. »Darf ich Ihnen etwas anvertrauen? Versprechen Sie mir, daß Sie Carl Lee gegenüber nichts davon erwähnen?«
»Klar.«
»Sein neuer Anwalt kann ihn gar nicht besuchen.«
»Was? Warum nicht?«
»Weil er keine Lizenz hat, die es ihm erlaubt, in Mississippi zu praktizieren. Er ist ein Tennessee-Anwalt. Man wirft ihn aus dem Gerichtssaal, wenn er bei uns erscheint. Ich fürchte, Carl Lee hat einen großen Fehler gemacht.«
»Weshalb sagen Sie ihm das nicht?«
»Weil ich von ihm gefeuert worden bin. Ich kann ihn nicht mehr beraten.«
»Jemand sollte ihn darauf hinweisen.«
»Sie haben mir gerade versichert, nichts zu verraten, in Ordnung?«
»Ja.«
»Versprochen?«
»Ich schwöre, daß er nichts von mir hört.«
»Gut. Ich muß jetzt gehen. Morgen früh treffe ich den Bürgen. Vielleicht können Sie in ein oder zwei Tagen gegen Kaution entlassen werden. Kein Wort zu Carl Lee, klar?«
»Klar.«
Draußen auf dem Parkplatz lehnte Tank Scales am Saab. Er trat eine Zigarette aus und holte einen Zettel aus der Hemdtasche. »Zwei Nummern. Die erste für den Anschluß zu Hause. Die zweite betrifft Lesters Arbeitsstelle. Rufen Sie dort nur an, wenn es unbedingt sein muß.«
»Danke, Tank. Haben Sie die Nummern von Iris?«
»Ja. Erst wollte sie nicht damit herausrücken. Gestern abend kam sie in meinen Laden, und ich sorgte dafür, daß sie betrunken wurde.«
»Ich schulde Ihnen einen Gefallen.«
»Früher oder später bitte ich Sie um einen.«
Es war fast acht Uhr und dunkel. Zu Hause wurde das Abendessen kalt, was häufiger geschah. Deshalb hatte er Carla einen Mikrowellenherd geschenkt. Sie klagte nicht,
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