Die Juweleninsel
das ist ja Menschenraub!«
»Zufälliger und glücklicher Weise war ich noch spät nach der Stadt gegangen. Als ich auf dem Rückwege durch die Schlucht kam, hörte ich schwere Schritte, welche mir entgegenkamen. Ich trat auf die Seite um auszuweichen, und erkannte zwei Männer, welche einen lichten Gegenstand trugen. Erst glaubte ich, es mit Mehldieben zu thun zu haben, aber als sie näher kamen, sah ich, daß es nicht ein Sack, sondern eine weibliche Person war, was sie trugen. Ihre Gesichter waren schwarz gefärbt, und ihre Kleidung war nicht eine solche, daß ich sie an derselben hätte erkennen können. Ich trat vor, erhob den Stock und rief ihnen zu, zu halten.
›Der Müller!‹ rief der Eine, ließ die Last fahren und sprang davon. Er mochte wissen, daß ich so stark bin, es mit Zweien aufzunehmen, obgleich ich –« fügte er lächelnd hinzu – »Ihnen, Herr Kurt, nicht gewachsen zu sein scheine.«
»Die See macht stark, mein Lieber, daran ist nichts zu bewundern. Aber bitte, fahren Sie fort. Ich bin mit dem größten Interesse bei Ihrer Erzählung.«
»Der Andere getraute sich nun auch nicht, einen Kampf mit mir allein zu bestehen; er warf seine Bürde ab und rannte dem Ersteren eiligst nach. Ich erkannte zu meinem größten Schrecken meine Tochter, welcher sie die Füße zusammengebunden und die Arme an den Leib gefesselt hatten.«
»Sie verfolgten die Flüchtlinge nicht?«
»Nein, ich hatte keine Zeit dazu, denn es war ja zunächst nothwendig, Anna von dem Pflaster und den Fesseln zu befreien, und als dies geschehen war, hätte ich die Schurken sicherlich nicht mehr erreichen können.«
»Kam Ihnen die Stimme nicht bekannt vor?«
»Gehört hatte ich sie bereits, aber den Besitzer zu bestimmen war mir nicht möglich.«
»Sie machten doch Anzeige über diesen Fall?«
»Das versteht sich. Er erregte allgemeines Aufsehen, doch blieb die Anzeige ohne weitere Folgen. Von da an unterließ es meine Tochter, des Abends aus der Mühle zu gehen, und entfernte sich selbst des Tages nicht weit von derselben. Kurze Zeit später wollte sie einen Korb Klee vom Felde holen. Es war um die Mittagszeit, und das Feld liegt in nur geringer Entfernung von der Mühle. Es schien also gar kein Grund zu irgend einer Befürchtung vorhanden zu sein, zumal das Mädchen kräftig genug war, es mit einem nicht gar zu starken Manne aufzunehmen. Da aber wurde plötzlich von hinten ihr Korb gefaßt, und ehe sie die Arme aus den Tragebändern bringen konnte, lag sie am Boden. Zwei verlarvte Männer warfen sich auf sie, von denen der eine sie festhielt, während der andere den Korb zu entfernen suchte. Dabei fiel die Sichel, welche in demselben gelegen hatte, heraus und zwar gerade so, daß es Anna gelang, sie zu erfassen. Das resolute Mädchen nahm jetzt alle ihre Kräfte zusammen und hieb mit dem schneidigen Instrumente so wacker um sich, daß sie beide Kerls verwundete und von ihnen freigegeben werden mußte.«
»Sie rief nicht um Hilfe?«
»O doch. Wir hörten es, und ich kam gerade noch zeitig genug, um die Fliehenden hinter den Felsen verschwinden zu sehen.«
»Und sie wurden nicht erkannt?«
»Leider nicht!«
»Solche Dinge sind beinahe unglaublich, wenn man bedenkt, daß die Zeiten der Raubritter und der Rinaldo’s vorüber sind. Zeigten sie auch dieses Mal an?«
»Versteht sich. Man hielt Recherchen – das war Alles, was ich erreichte.«
»Und dann?«
»Es vergingen viele Monate, und wir dachten gar nicht mehr an diese beiden Begebenheiten. Walther war Pastor geworden und schrieb uns, daß er nun heirathen werde. Anna und die Mutter arbeiteten fleißig an der Ausstattung. Eines Abends saßen Beide nähend in der Oberstube. Wir hatten nichts zu mahlen und daher war ich mit den Knappen und dem übrigen Gesinde bereits zu Bette gegangen. Da ruft es unten vor der Mühle mit gedämpfter Stimme. Die beiden Frauen horchen auf.
›Anna!‹ klingt es deutlich zu ihnen empor.
Das Mädchen öffnet das Fenster.
›Wer ist unten?‹
›Ich!‹
›Wer?‹
›Walther!‹
›Du? Ists möglich!‹
›Ich wollte Euch überraschen. Bitte, mach auf, Anna!‹
In ihrer Herzensfreude eilt sie ohne Licht hinab. Die Mutter hört, daß die Hausthür geöffnet wird und vernimmt ein-en leichten Schrei, den sie der Freude über das Wiedersehen zuschreibt. Sie ergreift die Lampe, um den Beiden die Treppe zu erleuchten. Sie wartet draußen, niemand kommt. Sie ruft; niemand antwortet. Sie geht endlich hinunter; die Thür steht offen,
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