Die Juweleninsel
sie einem ein Bein heruntergeschnitten haben.«
»Glücklicher Weise habe ich meine beiden Beine noch und werde diesen Umstand benutzen, um jetzt noch einen Spaziergang zu machen.«
»Spaziergang? jetzt? Bei Nacht?« frug Klaus, wobei sich seine Nase ganz entrüstet emporrichtete.
»Ja.«
»Wohin denn, wenn man fragen darf?«
»Auf den Berg.«
»Hm! Den ganzen Tag gelaufen und während nachtschlafender Zeit noch Berge steigen, das ist niemals meine Leidenschaft gewesen. Das versteht sich ja ganz von selber.«
»Steigen Sie morgen hinauf, Herr Schubert,« meinte Brendel. »Folgen Sie meinem Rathe, denn in wie fern denn und in wie so denn, am hellen Tage läuft es sich besser.«
»Es ist hell genug, um den Weg zu sehen.«
»Aber der Mond wird bald untergehen.«
»Dann leuchten mir die Sterne zum Heimwege. Schließen Sie die Thür hinter mir ab. Sie arbeiten doch die ganze Nacht hindurch?«
»Ja. Wir lösen einander ab.«
»So werde ich klopfen, wenn ich zurückkehre.«
Er ging. Die Schlucht war finster, aber über derselben flimmerten die Sterne, so daß er ungefährdet die Straße erreichte, welche empor zur Burg führte. Er schlug sie ein und schritt nun langsam den Berg empor. Hier und da zirpte eine wachende Grille im Grase oder ein träumender Vogel gab einen kurzen abgerissenen Laut von sich; sonst aber war Alles still und ruhig, und obgleich die Mitternacht noch nicht heran gekommen war, begegnete ihm kein Mensch auf seinem einsamen Wege.
Er langte bei dem Nonnenkloster an und schritt an den dunklen Massen desselben vorüber, ohne das mindeste Lebenszeichen entdecken zu können. Die frommen Schwestern waren wohl längst schlafen gegangen oder knieten in ihren Zellen, um im Stillen mit Dem zu verkehren, dessen Bräute sie geworden waren.
Dann kam er an den Mauern des Mönchsklosters vorüber, die ebenso düster und todt da lagen, wie diejenigen des anderen. Er verfolgte seinen Weg ohne alle nähere Absicht und gelangte an dem Kapellchen vorüber nach dem Schlosse, vor dessen Thore die breite Straße ihr Ende erreichte. Von ihr ab aber zweigte sich ein schmaler Pfad, der längs der äußeren Burgmauer, die von einem breiten Graben geschützt wurde, nach einer Felsenmasse führte, welche den höchsten Punkt des Berges bildete und mit den Zinnen des Schlosses in gleicher Höhe lag.
War dieser glatte, vielfach zerschlitzte und zerspaltene Steinkegel bereits einmal erstiegen worden? Möglich, aber nicht wahrscheinlich, denn es gehörte jedenfalls ein kühner Muth und ein sicherer Fuß zu diesem Unternehmen. Und doch kam Kurt die eigenthümliche Lust an, dieses Wagniß zu versuchen, obgleich es Nacht war. Es war gewiß ein willkommener Lohn, von dieser hohen einsamen Spitze tief unten die weithin sich dehnende Mondscheinlandschaft zu überblicken, und Kurt war als der beste Kletterer auf dem Schulschiffe bekannt gewesen. Es ist jedenfalls die Besteigung eines Berges bei nächtlicher Beleuchtung bei weitem nicht so gefährlich, wie das Klettern in die Wanten und auf die Raaen eines Fahrzeuges, welches in schwarzer stürmischer Nacht von dem Sturme auf den Wogen herumgeworfen wird.
Er umging den Felsen bis zu der Seite hin, wo er von dem Monde beschienen wurde, und begann dann den Aufstieg. Dieser war bedeutend schwieriger, als er anfangs gedacht hatte; er kam nur bis ungefähr auf drei Viertel der Höhe und mußte dann von seinem Vorhaben abstehen. Er blickte sich um.
Neben ihm lag die Burgmauer, über welche er hinwegblicken konnte. Er sah den hintern Hof und dann ein kleines Gärtchen, welches vom Monde so deutlich beleuchtet wurde, daß er eine weibliche Gestalt bemerken konnte, welche auf einer Bank saß, die von einem leichten Pflanzengewinde, jedenfalls Epheu, laubenartig überwölbt wurde. Sie war ganz in Weiß gekleidet und schien durch eine in der hintern Mauer angebrachte schießschartenähnliche Oeffnung hinaus in das weite Land zu blicken.
Wer war diese Frau oder dieses Mädchen? Die Anwesenheit derselben war keineswegs unerklärlich oder gar darnach angethan, irgend einen Argwohn, einen Verdacht zu begründen, aber Kurt hatte während mehrerer Stunden an nichts Anderes gedacht als an den Mädchenraub, und daher war es gar nicht zu verwundern, daß seine Phantasie sogleich thätig war, diesen Raub mit dem unbekannten Wesen in Verbindung zu bringen, welches dort so sehnsüchtig durch die Schießscharte blickte.
Die Mauer war gar nicht sehr weit entfernt von dem Felsenvorsprunge, auf
Weitere Kostenlose Bücher