Die Kälte Des Feuers
deshalb überraschte es Holly, als sie nicht auf einer geschriebenen Frage bestand. Sie antwortete sofort:
ICH KANN TEIL VON ALLEM WERDEN, MICH DARIN BEWEGEN UND JEDE BELIEBIGE GESTALT ANNEHMEN.
»Klingt ein wenig angeberisch«, kommentierte Holly.
»Wie bist du nur fähig, unter diesen Umständen sarkastisch zu sein?« tadelte Jim.
»Ich bin nicht sarkastisch«, widersprach sie. »Ich versuche nur zu verstehen.«
Jim bedachte sie mit einem skeptischen Blick.
Holly sprach erneut zu der Wesenheit: »Ist dir klar, welche Probleme ich dabei habe?«
Und auf dem Block: JA.
Holly riß das Blatt ab, und darunter kam eine leere Seite zum Vorschein. Sie wurde immer ruheloser und nervöser, ohne die Ursache dafür zu kennen, stand auf, drehte sich um und betrachtete das wogende Licht in den Wänden, bevor sie die nächste Frage stellte: »Warum wird dein Erscheinen von läutenden Glocken angekündigt?«
Keine Antwort erschien auf dem Papier.
Holly wiederholte die Frage.
Das Blatt blieb leer.
»Vermutlich ein Betriebsgeheimnis«, murmelte Holly.
Kalter Schweiß rann unter der Bluse aus ihrer rechten Achselhöhle. Noch immer erfüllte sie ein kindliches Staunen, doch nun regte sich auch wieder Furcht. Irgend etwas stimmte nicht, etwas, das über die klischeehaften Auskünfte dieser Wesenheit hinausging. Vergeblich versuchte sie, den Faktor zu finden, der ihr solches Unbehagen bescherte.
Jim schrieb eine neue Frage, und Holly beugte sich vor, um sie zu lesen: Bist du mir in dieser Kammer erschienen, als ich ein zehnjähriger Junge war?
JA. OFT.
Hast du meine Erinnerungen daran blockiert?
JA.
»Du brauchst die Fragen nicht zu schreiben«, sagte Holly. »Sprich sie einfach laut aus, so wie ich.«
Dieser Vorschlag verblüffte Jim. Außerdem überraschte es ihn, daß er weiterhin Filzstift und Block benutzte, obwohl er festgestellt hatte, daß Hollys Fragen beantwortet wurden. Ein wenig widerstrebend legte er die Schreibutensilien beiseite. »Warum hast du verhindert, daß ich mich erinnere?«
Holly stand zwar, aber sie konnte die auf dem zweiten Block erscheinenden Worte problemlos lesen.
WEIL DU NOCH NICHT BEREIT WARST.
»Unnötig geheimnisvoll«, murmelte Holly. »Du hast recht. Es muß ein männliches Wesen sein.«
Jim riß die volle Seite ab, legte sie zu den anderen, zögerte und kaute auf der Lippe. Offenbar wußte er nicht recht, was er jetzt fragen sollte. »Bist du männlich oder weiblich?« erkundigte er sich schließlich.
ICH BIN MÄNNLICH.
»Wahrscheinlich ist es keins von beiden«, warf Holly ein. »Wir haben es mit einem außerirdischen Wesen zu tun. Bestimmt pflanzt es sich durch Parthenogenese fort.«
ICH BIN MÄNNLICH, wiederholte das Geschöpf.
Jim blieb mit überkreuzten Beinen sitzen, war noch immer ganz Staunen und wirkte dadurch jungenhafter als jemals zuvor.
Holly begriff nicht, warum ihre Furcht zunahm, während Jim im wahrsten Sinne des Wortes vor Begeisterung und Entzücken zitterte.
»Wie siehst du aus?« fragte er.
WIE ICH AUSSEHEN MÖCHTE.
»Könntest du uns als Mann oder Frau erscheinen?«
JA.
»Als Hund?«
JA.
»Als Katze?«
JA.
»Als Käfer?«
JA.
Ohne Schreibblock und Stift schien Jim nicht in der Lage zu sein, wenigstens einigermaßen intelligente Fragen zu stellen. Holly rechnete halb damit, daß er die Wesenheit nach ihrer Lieblingsfarbe fragte, ob sie Coca-Cola oder Pepsie vorzog und Barry-Manilow-Musik mochte.
Statt dessen formulierte er folgende Worte: »Wie alt bist du?«
ICH BIN EIN KIND.
»Ein Kind?« Jim wirkte verwirrt. »Aber du hast uns doch gesagt, daß du schon seit zehntausend Jahren hier bist.«
TROTZDEM BIN ICH EIN KIND.
»Ist deine Spezies besonders langlebig?« WIR SIND UNSTERBLICH.
»Donnerwetter!«
»Eine Lüge«, sagte Holly.
Dieser Vorwurf schockierte Jim. »Holly! Ich bitte dich!«
»Ich meine es ernst.«
Und darin bestand der Grund für ihre neuerliche Furcht: Das Wesen war nicht ehrlich; es versuchte, sie zu täuschen, gab ganz bewußt falsche Antworten. Holly glaubte zu spüren, daß es ihnen Verachtung entgegenbrachte. In dem Fall wäre es sicher besser gewesen zu schweigen, stumm seine Macht zu respektieren und darauf zu achten, es nicht zu verärgern.
Aber sie sagte: »Ein unsterbliches Geschöpf würde von sich nicht als Kind reden. So etwas ist völlig unsinnig. Kindheit, Jugend, die Zeit als Erwachsener - das sind Alterskategorien einer Spezies mit begrenzter Lebensspanne. Wenn man unsterblich ist, so wird man
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