Die Kälte Des Feuers
vielleicht unschuldig, unwissend und ohne Bildung geboren, aber nicht jung; schließlich altert man nicht.«
»Haarspalterei«, erwiderte Jim fast trotzig.
»Wohl kaum. Ich glaube nach wie vor, daß die Wesenheit lügt.«
»Bestimmt hat sie das Wort >Kind< benutzt, damit wir seine fremde Natur besser verstehen können.«
JA.
»Von wegen.«
»Verdammt, Holly!«
Während Jim ein weiteres Blatt vom Block riß, es vorsichtig am Rand löste, ging Holly zur Wand und richtete ihren Blick auf die wechselnden Lichtmuster. Aus der Nähe betrachtet waren sie seltsam und schön. Es sah nicht nach einer langsam fließenden phosphoreszierenden Flüssigkeit oder feurigen Lavaströmen aus - Holly verglich das Schimmern eher mit einem großen Schwärm funkelnder Glühwürmchen. Sie nahm Millionen von paillettenartigen Punkten wahr und dachte dabei erneut an eine Tauchkugel und glitzernde Fische.
Sie fürchtete plötzlich, daß sich die Wand vorwölbte, aufplatzte und ein monströses Etwas gebar.
Ängstlich wollte sie zurückweichen, aber statt dessen trat sie noch etwas näher, bis ihre Nase fast den verwandelten Stein berührte. Das träge Wogen der vielen glühenden Zellen ließ eine sonderbare Benommenheit in ihr entstehen. Es ging keine Wärme davon aus; dennoch spürte sie Licht und Schatten auf ihrem Gesicht.
»Warum wird dein Erscheinen von läutenden Glocken angekündigt?« fragte sie.
Nach einigen Sekunden sagte Jim hinter ihr: »Keine Antwort.«
Es schien eine völlig harmlose Frage zu sein, leicht zu beantworten. Doch das Wesen gab keine Auskunft - was nach Hollys Ansicht darauf hindeutete, daß die Glocken eine große Rolle für es spielten. Wenn wir den Grund für das Klimpern verstehen, erfahren wir etwas Wichtiges über dieses Geschöpf.
»Warum wird dein Erscheinen von läutenden Glocken angekündigt?«
»Keine Antwort«, sagte Jim. »Du solltest diese Frage nicht noch einmal wiederholen, Holly. Ganz offensichtlich hat die Wesenheit nicht die Absicht, darauf zu antworten, und ich halte es für sinnlos, sie zu verärgern. Dies ist nicht der Feind, sondern …«
»Ja, ich weiß. Der Freund.«
Holly blieb an der Wand stehen und fühlte sich dem Geschöpf von Angesicht zu Angesicht gegenüber - obgleich sich nirgends etwas zeigte, das man als Gesicht bezeichnen konnte. Ich bin nun im Zentrum seiner Aufmerksamkeit, dachte Holly. Es ist hier, direkt vor mir.
»Warum wird dein Erscheinen von läutenden Glocken angekündigt?«
Sie begriff instinktiv, daß sie sich durch ihre unschuldige Frage und die nicht ganz so unschuldige Wiederholung in große Gefahr begeben hatte. Ihr Herz klopfte so laut, dass selbst Jim das rasende Pochen hören mußte. Und sicher vernahm es auch der Freund; vermutlich sah er sogar, wie es einem entsetzten Kaninchen gleich im Käfig von Hollys Brustkasten hin und her hüpfte. Die Wesenheit weiß, daß ich mich fürchte. Verdammt, vielleicht kann sie sogar meine Gedanken lesen. Ich muß zeigen, daß ich mich nicht von der Angst besiegen lasse.
Holly preßte eine Hand auf den von Licht erfüllten Stein. Wenn die glühenden Wolken nicht nur eine Projektion des fremden Bewußtseins waren, nicht nur ein Trugbild, das allein demonstrativen Zwecken diente, wenn das Etwas wirklich in der Wand existierte, so repräsentierte der Stein nun seinen Körper. Mit anderen Worten: Holly berührte die Haut des Wesens.
Sie fühlte leichte, strudelartige Vibrationen. Mehr nicht. Keine Hitze. Das Feuer im Kalkstein brannte kalt.
»Warum wird dein Erscheinen von läutenden Glocken angekündigt?«
»Hör auf damit, Holly«, sagte Jim. Zum erstenmal klang Besorgnis in seiner Stimme. Vielleicht begann auch er zu ahnen, daß der Freund nicht nur ein Freund war.
Holly argwöhnte, daß es bei dieser Konfrontation in erster Linie auf Willenskraft ankam. Wenn sie feste Entschlossenheit bewies, ergab sich daraus vielleicht eine neue Beziehung zum Freund. Sie konnte ihre Gewißheit nicht erklären. Weibliche Intuition? Nein, eher der Instinkt eines Reporters.
»Warum wird dein Erscheinen von läutenden Glocken angekündigt?«
Sie glaubte, eine subtile Veränderung in den Vibrationen festzustellen, aber vielleicht bildete sie sich das nur ein - sie waren ohnehin kaum spürbar. Vor ihrem inneren Augen entstanden gräßliche Bilder: In der Wand bildete sich ein jähes Licht, wurde zu einem Rachen mit langen Zähnen, die sich ihr in die Hand bohrten; Blut spritzte; weiße Knochensplitter ragten aus dem Armstumpf
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