Die Kälte Des Feuers
programmiert, die Geheimnisse des Freundes zu schützen, anstatt zu helfen, sie zu entschleiern.
Holly wußte, daß sie auf einem schmalen Steg zwischen kluger Vorsicht und Paranoia stand; vielleicht neigte sie bereits zu letzterem. Nun, unter den gegebenen Umständen konnte eine Prise Paranoia sicher nicht schaden; sie war ein gutes Überlebensrezept.
Als Jim sagte, er wolle nach draußen gehen, um sich zu erleichtern, zog es Holly vor, ihn zu begleiten. Sie wollte auf keinen Fall allein in der hohen Kammer bleiben, ging hinter ihm die Treppe hinunter, stand am Ford und kehrte Jim den Rücken zu, während er am Zaun des Kornfelds seine Blase entleerte.
Holly starrte zum dunklen Teich.
Sie lauschte den Fröschen, die nun wieder quakten, dem Zirpen der Zikaden. Die jüngsten Ereignisse hatten die Grundfesten ihres Ichs erschüttert; jetzt schienen sogar die normalen Geräusche der Natur Unheil zu verkünden.
Sie fragte sich, ob sie es mit etwas zu tun hatte, das für eine gescheiterte Journalistin und einen ehemaligen Schullehrer zu seltsam und mächtig war. Sie fragte sich, ob sie die Farm sofort verlassen sollten. Sie fragte sich, ob ihnen das Fremde erlauben würde, in den Wagen zu steigen und fortzufahren.
Nachdem der Freund die Mühle verlassen hatte, verringerte sich Hollys Furcht nicht, sie nahm sogar noch weiter zu. Sie glaubte sich direkt unter einer tausend Tonnen schweren Masse, die durch Magie an einem einzelnen menschlichen Haar hing. Doch der Zauber ließ allmählich nach, und das Haar dehnte sich wie ein Glasfaden und drohte zu reißen …
Bis um Mitternacht aßen sie sechs große Schokoladekekse und füllten sieben Seiten mit Fragen an den Freund. Zucker gab Energie, auch Trost in schwierigen Zeiten, aber gegen angespannte Nerven konnte er nichts ausrichten. Irgend etwas schmirgelte Hollys Messer aus Furcht, bis es so scharf wurde wie eine Rasierklinge.
Sie ging mit dem Block in der Hand auf und ab. »Außerdem geben wir uns nicht mehr mit geschriebenen Antworten zufrieden. Das führt nur zu Verzögerungen und läßt der Wesenheit mehr Zeit, sich ihre Reaktionen zu überlegen. Wir bestehen darauf, daß sie zu uns spricht.«
Jim lag auf dem Rücken und hatte die Hände unterm Kopf gefaltet. »Sie kann nicht sprechen.«
»Woher weißt du das?«
»Nun, ich vermute, daß sie nicht reden kann. Andernfalls hätte sie sich uns gleich auf diese Weise mitgeteilt.«
»Geh von keinen voreiligen Annahmen aus«, erwiderte Holly. »Wenn das Wesen in der Lage ist, seine Moleküle mit den Wänden zu vermischen und durch Stein zu gleiten - durch alles, falls seine Behauptungen stimmen -, wenn es darüber hinaus die Fähigkeit hat, jede beliebige Gestalt anzunehmen …, dann sollte es auch einen Mund und Stimmbänder bilden können wie alle höheren Mächte, die etwas auf sich halten.«
»Da hast du wahrscheinlich recht«, entgegnete Jim unsicher.
»Es hat uns bereits darauf hingewiesen, daß es imstande ist, uns als Mann oder Frau zu erscheinen, oder?«
»Ja.«
»Ich verlange gar keine leibliche Manifestation, nur eine Stimme. Eine körperlose Stimme, ein wenig Akustik für das visuelle Spektakel.«
Holly lauschte dem Klang ihrer eigenen Worte und gelangte zu dem Schluß, daß sie ihre Nervosität nutzte, um sich aufzustacheln und eine aggressive Einstellung zu gewinnen, die sie gut gebrauchen konnte, wenn der Freund zurückkehrte. Diesen alten Trick hatte sie gelernt, als sie Personen interviewte, die sie beeindruckend fand oder von denen sie sich eingeschüchtert fühlte.
Jim setzte sich auf. »In Ordnung. Die Wesenheit mag durchaus in der Lage sein, zu uns zu sprechen. Aber vielleicht möchte sie es nicht.«
»Wir dürfen nicht zulassen, daß sie alle Regeln bestimmt. Diesen Punkt haben wir doch schon geklärt.«
»Es ist mir nur ein Rätsel, warum wir das Wesen herausfordern müssen.«
»Von irgendwelchen Herausforderungen kann keine Rede sein.«
»Ich meine, wir sollten ihm wenigstens mit etwas Respekt begegnen.«
»Oh, ich respektiere es sogar sehr.«
»Bist du sicher?«
»Ich bin davon überzeugt, daß es uns wie lästige Insekten zerquetschen könnte, und schon deswegen habe ich eine Menge Respekt.«
»Das meine ich nicht.«
»Ich weiß. Aber was mich betrifft: Eine andere Art von Respekt muß es sich erst noch verdienen.« Holly ging nun nicht mehr auf und ab, sondern wanderte umher. »Wenn es die Versuche einstellt, mich zu manipulieren, wenn es aufhört, mich zu erschrecken, wenn
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