Die Kälte Des Feuers
sagt er Sieh-mich-an, und das Mädchen antwortet nur Bitte-bitte-bitte-nicht, und er knurrt noch einmal Sieh-mich-an, und daraufhin hebt das Mädchen den Kopf und sieht ihn an, und er sagt Hältst-du-mich-etwa-fürblöd? Das Mädchen hat Angst, schreckliche Angst, und es sagt Nein-bitte-ich-weiß-überhaupt-nichts-davon, und der Mann sagt Duweißt-ganz-genau-wovon-ich-rede, und er läßt die große Waffe sinken, zielt direkt auf das Gesicht des Mädchens, die Mündung ist nur ein oder zwei Zentimeter davon entfernt. Es sagt Omein-Gott-o-mein-Gott, und er sagt Du-gehörstzu-den-verdammten-Spionen, und Holly ist sicher, daß der Mann nun die Waffe beiseite legt und lacht, daß sich die anderen Leute nur tot gestellt haben und jetzt wieder aufstehen, daß der Geschäftsführer kommt und den Applaus für die Halloween-Show entgegennimmt, aber es ist gar nicht Halloween. Dann krümmt sich der Finger des Mannes um den Abzug, und das Mädchen verschwindet. Holly dreht sich um und kriecht in die Richtung zurück, aus der sie kommt, sie bewegt sich schnell und versucht zu fliehen, bevor der Mann sie bemerkt, denn er ist verrückt, ja, er ist wahnsinnig. Hollys Hände und Knie glitschen durch Pommes frites und vergossene Coke, als sie sich an dem kleinen Mädchen mit dem rosaroten Kleid vorbeischiebt, durch sein Blut, und sie betet zu Gott, daß der Verrückte sie nicht hört. Ra-ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta! Aber offenbar schießt er in eine andere Richtung, denn die Kugeln schlagen nicht in ihrer Nähe ein, sie setzt den Weg fort, kriecht über einen Toten, Eingeweide quellen aus seinem aufgerissenen Bauch, sie hört jetzt Sirenen, die draußen heulen, Polizisten kommen, um dem Verrückten das Handwerk zu legen. Dann kracht etwas hinter Holly, ein Tisch stürzt um, und das Geräusch ist so nahe, daß sie sich umdreht und den Mann sieht, der Verrückte kommt direkt auf sie zu und weiß ganz genau, wo sie sich befindet. Sie klettert über eine erschossene Frau weg, und dann ist sie in einer Ecke, auf dem Schoß eines toten Mannes, in den Armen eines toten Mannes, und es gibt keinen Ausweg mehr, denn der Wahnsinnige nähert sich. Er wirkt so entsetzlich, so böse und grauenhaft, daß sie nicht beobachten kann, wie er sich nähert, sie will nicht sehen, wie er die Waffe auf sie richtet, so wie auf das rothaarige Mädchen, und deshalb dreht sie den Kopf zur Seite, blickt in das Gesicht des Toten …
Holly erwachte aus diesem Traum, wie sie noch nie zuvor aus einem anderen erwacht war. Sie schrie nicht, und es steckte auch kein Schrei in ihrer Kehle fest. Statt dessen schnappte sie nach Luft, rollte sich zusammen, schlang die Arme um die Knie, bebte am ganzen Leib und keuchte aus reinem Abscheu.
Jim lag auf der Seite, mit dem Rücken zu ihr. Er hatte ebenfalls die Beine angezogen, nahm eine Art Fötusposition ein und schlief.
Als Holly wieder zu Atem kam, setzte sie sich langsam auf. Sie zitterte noch immer so heftig, daß sie glaubte, das Klappern ihrer Knochen zu hören.
Sie war froh, nach den längst verdauten Schokoladekeksen am letzten Abend nichts mehr gegessen zu haben. Andernfalls hätte sie sich jetzt übergeben.
Holly beugte sich vor und schlug die Hände vors Gesicht. Eine Zeitlang blieb sie stumm sitzen, bis aus dem Zittern ein Schaudern wurde, bis auch das Schaudern nachließ und sie nur noch fröstelte.
Als sie die Hände sinken ließ, sah sie Tageslicht hinter den schmalen Fenstern der hohen Kammer. Es handelte sich um ein trübes, graurotes Glimmen, nicht den grellen Glanz einer bereits hoch am Himmel stehenden Sonne, aber es kündigte einen neuen Tag an. Erleichterung durchströmte Holly, und sie begriff plötzlich, daß sie gar nicht damit gerechnet hatte, die Nacht zu überleben.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zehn Minuten nach sechs. Die Morgendämmerung hatte erst vor kurzer Zeit begonnen. Sie konnte höchstens zwei oder zweieinhalb Stunden geschlafen haben. Es war schlimmer als eine völlig schlaflose Nacht - Holly fühlte sich überhaupt nicht ausgeruht.
Der Traum. Vielleicht hatte der Freund seine telepathischen Fähigkeiten benutzt, um sie gegen ihren Willen einschlafen zu lassen. Und die ungewöhnliche Intensität des Alptraums deutete darauf hin, daß dieser gräßliche Gedankenfilm ebenfalls von ihm stammte.
Warum?
Jim murmelte leise und bewegte sich, blieb dann wieder still liegen, atmete ruhig und gleichmäßig. Wahrscheinlich träumte er etwas anderes, denn sonst hätte er gewimmert und
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