Die Kälte Des Feuers
kurz die Hand drückte, einen Finger zu seinen Lippen hob oder ihn erneut küßte. Sie nahm den Schreibblock vom Rücksitz, und die Antworten der Wesenheit verblüfften ihn so sehr, daß er mehrere Minuten lang überhaupt keinen Ton von sich gab. WEIL ER WIE MEIN VATER AUSSIEHT, DEN ICH NICHT GERETTET HABE. Ihm zitterten die Hände, als er den Block hielt und auf diese unglaublichen Worte starrte. Er las auch die anderen überraschenden Botschaften, die sich auf mehreren Seiten wiederholten - ER LIEBT DICH HOLLY / ER WIRD DICH TÖTEN HOLLY -, und seine Hände bebten heftiger.
»Ich würde dir nie etwas antun«, sagte er mit brüchiger Stimme und blickte auf den Block. »Nie.«
»Ich weiß«, erwiderte Holly.
Auch Dr. Jekyll wollte sich nicht in den mörderischen Mr. Hyde verwandeln, dachte sie.
»Trotzdem glaubst du, daß dies hier von mir stammt, nicht vom Freund.«
»Ich bin ganz sicher, Jim.«
»Wenn der Freund diese Worte an dich gerichtet hat, und wenn der Freund mit mir identisch beziehungsweise ein Teil von mir ist, wie du glaubst, so müßte es eigentlich heißen: >Ich liebe dich Holly.<«
»Ja«, sagte sie sanft.
Jim sah vom Block auf und begegnete ihrem Blick. »Wenn du an die Ich-liebe-dich-Botschaft glaubst … Hältst du dann auch die andere für echt, die Ich-werde-dich-töten-Warnung?«
»Nun … Ich bin tatsächlich davon überzeugt, daß mich ein dunkler Aspekt in dir töten will.«
Jim zuckte so heftig zusammen, als hätte ihm Holly einen Schlag versetzt.
»Der Feind will meinen Tod. Er ist ganz versessen darauf, mich umzubringen, weil ich dir zeige, was hinter den jüngsten Ereignissen steckt, weil ich dich hierhergebracht habe, dich mit der Ursache deiner Fantasiewelt konfrontiere.«
Jim schüttelte langsam den Kopf.
»Genau diese Hilfe hast du dir erhofft«, fügte Holly hinzu. »Deshalb hast du mein Interesse geweckt, mich zu dir gelockt.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich habe nie …«
»Es ist die Wahrheit.« Es war außerordentlich gefährlich, Jim zu zwingen, sich der Realität zu stellen. Aber es gab keine andere Möglichkeit, ihm zu helfen. »Wenn du verstehen kannst, was geschehen ist, wenn du die Existenz von zwei anderen Persönlichkeiten akzeptierst, oder auch nur die Möglichkeit ihrer Existenz … Dann leitest du vielleicht das Ende des Freundes und des Feindes ein.«
Jim schüttelte noch immer den Kopf, als er erwiderte: »Der Feind wird sich nicht friedlich zurückziehen.« Sofort blinzelte er, überrascht von diesen Worten und ihrer Bedeutung.
»Verdammt«, murmelte Holly und fröstelte. Jim hatte gerade ihre Theorie bestätigt - ob er es zugab oder nicht -, und außerdem wiesen die sieben Worte darauf hin, daß er seine absonderliche Fantasiewelt verlassen wollte.
Er war so blaß wie jemand, der gerade erfahren hatte, daß ein Krebsgeschwür in ihm wucherte. Es gab tatsächlich etwas Bösartiges in ihm, doch es betraf den Geist, nicht den Körper.
Eine leichte Brise wehte durch die offenen Seitenfenster des Wagens und erfüllte Holly mit neuer Hoffnung.
Das optimistische Gefühl dauerte jedoch nicht lange. Es verflüchtigte sich, als auf dem Block in Jims Händen folgende Botschaft erschien: DU STIRBST.
»Ich bin es nicht«, sagte Jim ernst, obgleich er vor wenigen Sekunden ein subtiles Geständnis abgelegt hatte. »Ich kann es nicht sein.«
Weitere Worte bildeten sich auf dem Papier. ICH KOMME. DU STIRBST.
Holly gewann den Eindruck, daß sich die ganze Welt in eine Kirmes-Geisterbahn voller Gespenster und Phantome verwandelte. Ständig mußte man damit rechnen, daß irgend etwas aus dem Schatten sprang - sogar aus hellem Sonnenschein. Aber in diesem besonderen Fall bestanden die Ungeheuer nicht aus Pappmache, sondern fügten echte Schmerzen zu, zerfetzten lebendes Fleisch und töteten, wenn sie Gelegenheit dazu fanden.
Holly ging von der Annahme aus, daß der Feind - ebenso wie der Freund - mit Unsicherheit auf festen Willen reagierte. Sie griff nach dem Block und warf ihn aus dem Fenster. »Zur Hölle damit. Ich lese den Blödsinn nicht mehr. Hör mir zu, Jim. Wenn ich recht habe, ist der Feind die Verkörperung deines Zorns über den Tod der Eltern. Deine Wut war so groß, daß sie den zehnjährigen Jim erschreckte, und deshalb verdrängte er sie aus seinem Innern, schob sie nach draußen und gab ihr eine andere Identität. Aber du bist ein einzigartiges Opfer des Syndroms der multiplen Persönlichkeit: Du hast die Macht, deinen anderen Identitäten eine
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