Die Kälte Des Feuers
Großmutter, und erst jetzt merkte er, daß auf der linken eine entsprechende Angabe fehlte. Er las Henrys Namen, zur gleichen Zeit eingemeißelt wie der Lenas: HENRY JAMES IRONHEART. Hinzu kam das Geburtsdatum. Aber nirgends stand, wann er gestorben war.
Der stahlgraue Himmel senkte sich weiter herab.
Die Bäume neigten sich näher, ragten jetzt schräg in die Höhe.
»Hast du nicht gesagt, daß er acht Monate nach Lena starb?« erklang Hollys Stimme.
Jims Gaumen war völlig trocken. Er konnte kaum genug Speichel sammeln, um zu sprechen, und die Worte lösten sich als heiseres Flüstern von seinen Lippen. Er hörte sich an wie Sand, der über Wüstensteine strich. »Was willst du von mir, zum Teufel? Es stimmt. Er starb … acht Monate später … am vierundzwanzigsten Mai des nächsten Jahres …«
»Und die Todesursache?«
»Ich … erinnere … mich … nicht.«
»Eine Krankheit?«
Hör endlich auf! Sei still!
»Keine Ahnung.«
»Ein Unfall?«
»Ich … ich glaube … er erlag einem Schlaganfall.«
Große Teile seiner Vergangenheit waren Dunstschwaden innerhalb eines dichten Nebels. Jim begriff nun, daß er kaum etwas darüber wußte. Er lebte einzig und allein in der Gegenwart. Ihm fielen die großen Löcher in seiner Erinnerung erst jetzt auf, weil er bisher nie versucht hatte, sich an bestimmte Dinge zu erinnern.
»Warst du der nächste Verwandte deines Großvaters?« fragte Holly.
»Ja.«
»Ich nehme an, dann hast du dich um sein Begräbnis gekümmert, oder?«
Jim zögerte und runzelte die Stirn. »Ich glaube … ja.«
»Aber wieso fehlt das Todesdatum am Grabstein? Hast du vergessen, es hineinmeißeln zu lassen?«
Er starrte auf die leere Stelle im Granit, tastete verzweifelt in eine ebenso leere Stelle seines Gedächtnisses. Ihm fiel keine Antwort ein, und er fühlte sich elend. Er wollte sich irgendwo zusammenrollen, die Augen schließen und schlafen, für immer. Sollte etwas anderes an seiner Stelle erwachen …
»Oder liegt Henry hier gar nicht begraben?« fügte Holly hinzu.
Die Krähen flogen wieder vor der Asche des ausgebrannten Himmels, krächzten, kamen herab, schlugen kalligraphische Botschaften mit den Flügeln, ebensowenig deutbar wie die flüchtigen Erinnerungen, die durchs dunklere Grau von Jims Bewußtsein tanzten.
Holly steuerte den Wagen um die Ecke und in Richtung der Tivoli-Gärten.
Nach dem Besuch in der Apotheke hatte Jim zum Friedhof fahren wollen. Einerseits fürchtete er sich vor dem, was er dort finden mochte, und andererseits war er fest entschlossen, sich dem Rätsel seiner eigenen Vergangenheit zu stellen und die betreffenden Erinnerungen der Wahrheit anzupassen. Die Erfahrungen versetzten ihm einen harten emotionalen Schlag, und jetzt hatte er es nicht mehr so eilig damit herauszufinden, ob ihn weitere Überraschungen erwarteten. Er überließ das Steuer Holly, und sie glaubte, daß er weitaus glücklicher sein würde, wenn sie aus dem Ort gefahren wäre, nach Süden, wenn sie nie wieder New Svenborg erwähnen würde.
Zu den Tivoli-Gärten gab es keine Zufahrt. Sie ließen den Wagen am Straßenrand stehen und gingen den Rest des Weges zu Fuß.
Schon nach wenigen Metern stellte Holly fest, daß der hochtrabende Name tatsächlich einer Parodie gleichkam. Die angeblichen Gärten wirkten noch weniger einladend als am vergangenen Tag. Der düstere Eindruck, den sie nun gewann, konnte nicht nur auf den bedeckten Himmel zurückgeführt werden. Das Gras war in langen Sommerwochen halb verdorrt - in jedem mittelkalifornischen Tal konnte es ziemlich heiß werden. Kletterpflanzen wickelten ihre dünnen Ranken ungehindert um die Rosen, deren Blütenblätter traurig herabhingen. Andere Blumen wirkten verwelkt, und die beiden Parkbänke mußten dringend gestrichen werden.
Nur die Windmühle befand sich in einem guten Zustand. Sie war größer und beeindruckender als die Mühle auf der IronheartFarm, mindestens sechs Meter höher; darüber hinaus verfügte sie über einen Rundbalkon.
»Warum sind wir hier?« erkundigte sich Holly.
»Diese Frage solltest du an dich selbst richten«, erwiderte Jim. »Du wolltest unbedingt nach New Svenborg.«
»Stell dich nicht dumm, Schatz.«
Holly wußte, wie gefährlich es war, Jim weiterhin unter Druck zu setzen - sie verhielt sich wie jemand, der immer wieder mit dem Fuß gegen einen Karton mit Dynamit stieß. Aber früher oder später würde er ohnehin explodieren. Wenn sie überleben wollte, mußte sie Jim zu dem
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