Die Kälte Des Feuers
noch immer auf dem Trip der gespaltenen Persönlichkeit«, erwiderte Jim.
»Ja.«
»Es war also meine dunkle Seite?«
»Ja.«
»In Gestalt eines riesigen Wurms oder so«, sagte Jim und versuchte vergeblich, ätzenden Sarkasmus zum Ausdruck zu bringen. »Aber du hast doch gesagt, daß sich der Feind nur dann manifestiert, wenn ich schlafe, und diesmal habe ich nicht geschlafen. Woraus folgt: Selbst wenn ich der Feind bin - wie kann ich dann das Ding im Park gewesen sein?«
»Neue Regeln. In deinem Unterbewußtsein wächst die Verzweiflung. Du kannst jene Persönlichkeit nicht mehr so einfach unterdrücken wie vorher. Je mehr du dich der Wahrheit näherst, desto aggressiver wird der Feind, um sich zu schützen.«
»Wenn ich es gewesen bin - wieso erklang dann nicht der dreifache Herzschlag?«
»Er diente nur dazu, um Eindruck zu schinden, so wie die Glocken, mit denen sich der Freund ankündigte.« Holly hob den Kopf und sah Jim an. »Du hast darauf verzichtet, weil keine Zeit dafür blieb. Ich habe den Text der Tafel gelesen, und du wolltest mich so schnell wie möglich daran hindern. Du brauchtest ein Ablenkungsmanöver - und eines sage ich dir, Schatz: Du gibst dich nicht mit kleinen Dingen ab.«
Jim sah wieder aus dem Fenster, blickte zur Mühle und der Hinweistafel mit den Informationen über Die schwarze Windmühle.
Holly legte ihm die Hand auf die Schulter. »Der Tod deiner Eltern bereitete dir einen tiefen Schock. Du hast nach einer Möglichkeit gesucht, aus der Realität zu fliehen. Ein Schriftsteller namens Arthur Willot bot dir eine Fantasiewelt an, die deinen Bedürfnissen gerecht wurde. Und seitdem lebt du darin, manchmal mehr, manchmal weniger.«
Jim konnte es ihr gegenüber nicht zugeben, daß er sich tatsächlich nach Verstehen sehnte, daß er kurz davor stand, seine Vergangenheit aus einer Perspektive zu sehen, die alle Geheimnisse und Rätsel entschleierte und ihnen einen klaren Sinn gab. Wenn selektive Amnesie, sorgfältig konstruierte falsche Erinnerungen und selbst multiple Persönlichkeit keine Anzeichen von Wahnsinn darstellten, sondern dazu dienten, ihm inneren Halt zu geben, wie Holly behauptete was geschah dann, wenn er diesen Halt verlor? Wenn er die Wahrheit über seine Vergangenheit entdeckte, sich jenem Etwas stellte, vor dem er als Kind geflohen war - bestand dann die Gefahr, daß ihm die Wahrheit diesmal den Verstand raubte? Wovor hatte er damals die Flucht ergriffen?
»Weißt du«, sagte Holly leise, »wichtig ist nur, daß du dich beherrscht hast, bevor uns der Feind erreichte, bevor es uns angreifen konnte.«
»Die Schmerzen in meinem Schienbein sind kaum zu ertragen«, entgegnete Jim und schnitt eine Grimasse.
»Gut.« Holly lächelte und startete den Motor. »Wohin fahren wir jetzt?« fragte Jim. »Wohin wohl? Zur Bibliothek.«
Holly parkte am Rand der Copenhagen Lane, vor dem kleinen viktorianischen Gebäude, in dem die Bibliothek von New Svenborg untergebracht war.
Sie spürte eine gewisse Zufriedenheit darüber, daß ihre Hände nicht zitterten, daß ihre Stimme ruhig klang, daß sie den Wagen mühelos auf der richtigen Fahrbahnseite hielt. Nach dem Zwischenfall im Park wunderte sie sich darüber, daß sie nicht der Hysterie anheimfiel. Sie war purem Entsetzen ausgesetzt gewesen - einem intensiven Schrecken, der von keinem anderen Gefühl gelindert wurde. Das Grauen lauerte noch immer in ihr, hatte sich nur in eine dunkle Ecke zurückgezogen, bereit dazu, jederzeit hervorzuspringen und sie erneut zu packen. Aber sie hielt an der Entschlossenheit fest, ihre Angst vor Jim zu verbergen; er war noch weitaus schlimmer dran als sie. Sein Leben offenbarte sich immer mehr als ein Durcheinander aus Lügen. Er brauchte jemanden, auf den er sich stützen, der ihm helfen konnte.
Als sie über den Pfad zum Eingang des Gebäudes gingen, bemerkte Holly, daß Jim hinkte und den Rasen beobachtete, als rechne er damit, daß sich erneut etwas zu ihnen grub.
Du solltest besser darauf verzichten, noch einmal den Feind erscheinen zu lassen, dachte sie. Sonst hast du zwei schmerzende Schienbeine.
Doch als sie die Tür passierte, fragte sie sich, ob noch einmal ein fester Tritt genügen würde, um die dunkle Seite seines Ichs zurückzudrängen.
Im holzvertäfelten Foyer wies ein Schild darauf hin, daß sich die Sachbücher im Obergeschoß befanden. Ein Pfeil deutete zur Treppe auf der rechten Seite.
An die kleine Eingangshalle schloß sich ein Flur an, der zu zwei großen Zimmern mit
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