Die Kälte Des Feuers
vierundzwanzig. Der neunzehnte Jahrestag ihres Todes … Und ich dachte, sie sei gerade erst gestorben.«
Sie schwiegen beide.
Zwei große Krähen segelten unter dem grauen, düsteren Himmel, krächzten und verschwanden hinter den Baumwipfeln.
»Ist es möglich, daß du Lenas Tod verdrängt hast und nicht bereit warst zu akzeptieren, daß sie vor vierundzwanzig Jahren starb?« fragte Holly schließlich. »Vielleicht konntest du dich erst neunzehn Jahre später damit abfinden - an dem Tag, als du mit den Blumen hierher kamst. Aus diesem Grund glaubst du dich daran zu erinnern, daß sie seit nicht ganz so langer Zeit tot ist. Du hältst den Tag für ihr Todesdatum, an dem du dich voll und ganz der Erkenntnis gestellt hast, daß sie nicht mehr lebt.«
Jim wußte sofort, daß Holly die Wahrheit zum Ausdruck brachte, aber ihre Erklärungen tilgten nicht das Unbehagen in ihm. »Mein Gott, Holly, ich bin verrückt.«
»Nein«, widersprach sie. »Du versuchst nur, dich zu schützen. Aus dem gleichen Grund hast du vieles von dem verdrängt, was der zehnjährige Jim Ironheart erlebte.« Sie legte eine kurze Pause ein und holte tief Luft. »Wie starb deine Großmutter?«
»Sie …«Es verblüffte Jim, daß er sich nicht an die Ursache von Lena Ironhearts Tod erinnern konnte. Erneut wallten mentale Nebelschwaden heran. »Keine Ahnung.«
»Ich glaube, sie starb in der Mühle.«
Jim wandte den Blick vom Grabstein ab und sah Holly an, er spürte dabei eine alarmierte Anspannung, für die er keine Erklärung hatte. »In der Windmühle? Warum? Was geschah dort? Woher willst du das wissen?«
»Der Traum, von dem ich dir erzählt habe. Ich stieg die Treppe in der Mühle hoch, blickte durch das Fenster zum Teich und sah das Spiegelbild einer anderen Frau im Glas, das Gesicht deiner Großmutter.«
»Es war nur ein Traum.«
Holly schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin sicher, es handelte sich um eine Erinnerung, um eine deiner Erinnerungen, die du in mein Bewußtsein projiziert hast.«
Panik beschleunigte Jims Puls, aus Gründen, die ihm verborgen blieben. »Wie soll es eine meiner Erinnerungen gewesen sein, obwohl ich überhaupt nichts davon weiß?«
»Oh, du weißt Bescheid.«
Jim runzelte die Stirn. »Nein. Das stimmt nicht.«
»Das Wissen befindet sich in deinem Unterbewußtsein, und dort wird es dir nur zugänglich, wenn du träumst. Aber es existiert.«
Wenn Holly ihm gesagt hätte, daß der ganze Friedhof auf einem Karussell ruhte und daß sie sich langsam unter dem schießpulvergrauen Himmel drehten - er wäre ohne weiteres bereit gewesen, diese Behauptung als Wahrheit hinzunehmen. Aber er konnte sich nicht dazu durchringen, diese Erinnerung und ihren Bedeutungsinhalt zu akzeptieren. Er glaubte, durch einen Strudel aus Licht und Dunkelheit zu stürzen, Licht und Dunkelheit, Furcht und Zorn …
»Aber in deinem Traum …«, brachte er mühsam hervor. »Ich war in der hohen Kammer, als meine Großmutter die Treppe hochstieg?«
»Ja.«
»Und wenn sie dort starb …«
»Bist du Zeuge ihres Todes geworden.«
Jim schüttelte heftig den Kopf. »Mein Gott, daran würde ich mich doch erinnern, oder?«
»Nein. Vermutlich hast du deshalb neunzehn Jahre gebraucht, um dich damit abzufinden, daß Lena nicht mehr lebt. Ich bin davon überzeugt, daß du zugegen warst, als sie starb. Es muß ein enormer Schock für dich gewesen sein, der eine langfristige Amnesie zur Folge hatte. Und die vermeintlichen Lücken in deinem Gedächtnis hast du mit immer neuen Fantasievorstellungen gefüllt.«
Eine leichte Brise kam auf, und irgend etwas knackte vor Jims Füßen. Er war plötzlich sicher, daß sich die knochige Hand seiner Großmutter aus dem Grab schob, um ihn zu packen. Aber als er zu Boden sah, fiel sein Blick nur auf einige welke Blätter, die leise raschelten, als der Wind sie übers Gras wehte.
Mit jedem Herzschlag, der wie das dumpfe Pochen eines Fausthiebs klang, wandte sich Jim weiter vom Grab ab, versessen darauf, zum Wagen zurückzukehren.
Holly legte ihm die Hand auf den Arm. »Warte.«
Er riß sich los, stieß sie fast beiseite. Einige Sekunden lang starrte er sie finster an. »Ich möchte fort von hier.«
Holly ignorierte seine Worte und hielt ihn erneut fest. »Wo ist dein Großvater? Wo liegt er begraben?«
Jim deutete auf die zweite Grabstelle. »Dort. Neben Lena.«
Dann sah er die andere Hälfte des Gedenksteins. Er war nur auf die rechte Seite konzentriert gewesen, auf das verblüffende Todesdatum seiner
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