Die Kälte Des Feuers
er sah sich außerstande, ihr in Anwesenheit des Kindes die schreckliche Wahrheit zu sagen.
Die Frau erkannte sie in seinen Augen, und für einige Sekunden wurde ihr Gesicht zu einer Fratze aus Kummer und Schmerz. Doch um ihrer Tochter willen unterdrückte sie das Schluchzen, verschluckte es zusammen mit der inneren Qual.
»O mein Gott«, hauchte sie nur, und in jedem Wort hallte Trauer wider.
»Können Sie Susie tragen?«
Lisas Gedanken waren noch immer bei ihrem toten Mann.
»Können Sie Susie tragen?« fragte Jim noch einmal.
Die Frau blinzelte verwirrt. »Wieso kennen Sie ihren Namen?«
»Ihr Mann nannte ihn mir.«
»Aber …«
»Vorher«, sagte Ironheart scharf und meinte, bevor er starb. Er wollte keine falschen Hoffnungen in Lisa wecken. »Sind Sie in der Lage, Ihre Tochter nach draußen zu tragen?«
»Ja, ich glaube schon. Vielleicht.«
Jim hätte das Mädchen selbst tragen können, aber er hielt es für besser, ihm nicht zu nahe zu kommen. In diesem Zusammenhang spürte er eine irrationale und emotionale Reaktion: Aus irgendeinem Grund glaubte er, daß alle Männer Verantwortung für das trugen, was die beiden Entführer mit Susie angestellt hatten beziehungsweise mit ihr angestellt hätten. Auch ihn traf eine gewisse Schuld.
Der einzige Mann, der Susie jetzt berühren durfte, war ihr Vater. Und seine Leiche lag einige Meilen entfernt in einem Kombi.
Er wandte sich ganz vom Bett ab und blieb neben einem Wandschrank stehen, dessen Tür langsam aufschwang.
Das weinende Mädchen kroch von Lisa fort, die es von den Klebebändern befreite; es stand unter einem solchen Trauma, daß es sich sogar von der eigenen Mutter bedroht fühlte. Dann streifte es die Ketten des Entsetzens ab und warf sich in die Arme der Frau. Lisa sprach leise und beruhigend auf ihre Tochter ein, strich ihr übers Haar und hielt sie fest.
Die Klimaanlage funktionierte nicht mehr, seit die Entführer das Wohnmobil geparkt hatten, um sich den Camaro anzusehen. Mit jeder verstreichenden Sekunde stieg die Temperatur im Schlafzimmer, und der Gestank wurde nahezu unerträglich. Jim roch abgestandenes Bier und Schweiß und nahm auch den Geruch von geronnenem Blut wahr, der von einigen dunkelbraunen Flecken auf dem Teppich ausging. Außerdem stieg ihm noch etwas anderes in die Nase, das er nicht zu identifizieren wagte.
»Ich schlage vor, wir gehen nach draußen.«
Lisa wirkte nicht sehr kräftig, aber sie hob ihre Tochter so mühelos hoch wie ein Kissen. Mit Susie in den Armen näherte sie sich der Tür.
»Das Mädchen soll nicht nach links sehen, wenn Sie an der Küche vorbeikommen«, sagte Jim. »Einer der beiden Toten liegt neben der Tür und bietet keinen besonders angenehmen Anblick.«
Lisa nickte und war offenbar dankbar für die Warnung.
Als sich Ironheart umdrehte, um ihr zu folgen, sah er den Inhalt des Schranks, der sich neben ihm geöffnet hatte. In den Regalen standen kleine Kassetten, wie man sie für Videokameras verwendete. An den Rückseiten klebten Titelstreifen mit handschriftlichen Hinweisen. Namen. CINDY. TIFFA-NY. JOEY. CISSY. TOMMY. KEVIN. Zwei mit SALLY gekennzeichnete Kassetten. Drei mit WENDY. Weitere Namen. Insgesamt etwa dreißig. Jim wußte, um was es sich handelte, aber er wollte es nicht glauben. Aufzeichnungen von Brutalität und Perversion. Opfer.
Die bittere Dunkelheit in ihm flutete höher.
Er verließ den Roadking und trat ins grelle Licht der heißen Wüstensonne hinaus.
2
Lisa wartete im weißgoldenen Sonnenschein am Rand des Highways, hinter dem Wohnmobil. Susie stand neben ihr und hielt sich an ihr fest. Das Licht übte eine seltsame Wirkung auf sie beide aus: Es strömte schimmernd durch ihr flachsfarbenes Haar, betonte die Farbe der Augen - so wie die Schaufensterlampe eines Juweliers die Schönheit von auf schwarzem Samt ruhenden Smaragden hervorhebt. Darüber hinaus verlieh es der Haut einen fast mystischen Glanz. Während Jim Mutter und Tochter beobachtete, fiel es ihm schwer zu glauben, daß jenes Licht nicht aus ihrem Innern kam, daß Finsternis in ihr Leben gekrochen war, so umfassend und allgegenwärtig wie die Nacht von der Abend- bis zur Morgendämmerung.
Ironheart empfand ihre Gegenwart immer mehr als Belastung. Wenn er den Blick auf sie richtete, erinnerte er sich jedesmal an den Toten im Kombi, und dann entstand mitleidiger Kummer in ihm, so schmerzhaft wie ein Messerstich.
Im Roadking hatte er einen Schlüsselbund gefunden und öffnete damit das Haltegerüst, an der die
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