Die Kälte Des Feuers
daß es nicht Casey sein konnte, aber sie ging trotzdem.«
Christine streckte den Arm aus, und erst jetzt stellte Jim fest, daß sich der vordere Teil des Flugzeugs, bis hin zum Bereich der Ersten Klasse, vollständig von der Sektion mit den Reihen sechzehn und siebzehn gelöst hatte. Er lag sechzig Meter vor dem Rest der Maschine, zwar brannte er nicht ganz so heftig wie der mittlere Abschnitt der auseinandergebrochenen DC-10, aber er war schlimm genug zugerichtet. Das galt insbesondere für die hintere Hälfte.
Jim war entsetzt, daß Holly es gewagt hatte, in irgendeinen Teil des Wracks zurückzuklettern. Das Cockpit und die geborstene Rumpfsektion sahen aus wie ein exotischer Monolith auf dem Friedhof eines fernen Planeten. Der deformierte Bug des Flugzeugs schien hier völlig fehl am Platz zu sein, er wirkte sonderbar, unheilvoll und drohend.
Ironheart stürmte darauf zu und rief Hollys Namen.
Holly wußte, daß es sich um die gleiche Maschine handelte, die vor einigen Stunden in Los Angeles gestartet war, aber sie konnte sich kaum vorstellen, daß dieser vordere Bereich der DC-10 irgendwann einmal Teil eines funktionsfähigen Flugzeugs gewesen war. Er schien eher das Werk eines verrückten Bildhauers zu sein, der diverse Metallfragmente zusammengeschweißt hatte: Bratpfannen, Kuchenformen, Mülltonnen, Rohrleitungen, Autokühler, alte Drähte und Kabel, Aluminiumplatten und Bestandteile eines schmiedeeisernen Zauns. Die Journalistin sah gelöste Nieten, gesplittertes Glas, aus den Verankerungen gerissene Sitze, die barrikadenartige Haufen in einer Ecke bildeten; verbogenes Metall, an einigen Stellen fast pulverisiert, wie von einem Hammer zerschmetterte Kristalle. Innere Verkleidungsplatten hatten sich gelöst, und dahinter kamen dicke, nach innen geneigte Stützstreben zum Vorschein. Hier und dort mußte die Journalistin großen Löchern im Boden ausweichen, deren Ränder nach oben gewölbt waren - Explosionen unter der DC-10? Überall wimmelte es von scharfkantigen Metallobjekten; der Anblick erinnerte an einen Schrottplatz für alte Flugzeuge kurz nach einem Orkan.
Holly verharrte, lauschte dem Weinen eines ängstlichen Kindes und versuchte festzustellen, aus welcher Richtung sie diese Geräusche vernahm. Sie konnte nicht überall aufrecht stehen. Manchmal mußte sie sich ducken, durch enge Passagen kriechen und Hindernisse beiseite schieben. Die gleichmäßig angeordneten Sitzreihen und Gänge hatten sich in ein verwirrendes, unüberschaubar komplexes Labyrinth verwandelt.
Die Journalistin erschrak, als sie gelbe und rote Flammen auf der linken Seite und rechts neben dem Schott sah, das den Passagierraum vom Cockpit trennte. Aber es war ein eher zahmes, träges Feuer, nicht so zornig wie die lodernde Glut, die sie vor einigen Minuten erlebt hatte. Natürlich konnte es innerhalb weniger Sekunden zu einer unmittelbaren Gefahr werden, aber derzeit fand es gerade genug brennbares Material und Sauerstoff, um nicht zu erlöschen.
Graue Rauchstreifen tasteten nach ihr, stellten jedoch kaum eine Bedrohung dar. Es gab genug atembare Luft, und Holly hustete nur selten.
Die Konfrontation mit den Leichen belastete sie sehr. Ohne Ironhearts Eingreifen wäre die Bruchlandung sicher schlimmer gewesen, aber nicht alle Reisenden hatten überlebt, und im Bereich der Ersten Klasse fand Holly mehrere Tote. Sie sah einen Mann, der am Sitz festgenagelt war: Ein dreißig Zentimeter langes und zweieinhalb Zentimeter dickes Stahlrohr durchdrang seinen Hals. In den erstarrten Gesichtszügen zeigte sich Überraschung. Auf der anderen Seite bemerkte Holly eine fast geköpfte und noch immer angeschnallte Frau, deren Sessel sich aus dem Boden gelöst hatte. In der Nähe lagen einige andere Sitze, und dort beobachtete die Journalistin vier oder fünf Verletzte und Tote, die übereinander lagen. Die Verwundeten ließen sich nur von den Leichen unterscheiden, wenn man feststellte, wer stöhnte.
Irgendwann wurde das Entsetzen zuviel für Holly, und ihr Unterbewußtsein formte einen Schild, der das Grauen auf Distanz hielt. Sie sah das Blut, ohne es wirklich wahrzunehmen. Sie wandte ihren Blick von den gräßlichsten Wunden ab, verdrängte die alptraumhaften Bilder der getöteten Passagiere aus dem Fokus der Aufmerksamkeit. Die menschlichen Körper gewannen eine abstrakte Qualität, als seien sie überhaupt nicht real, sondern nur vage Formen und Farben, geschaffen von einem Kubisten, der Picasso imitierte. Wenn sie sich erlaubt
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