Die Kälte Des Feuers
entsprechenden Turnschuh ab und stellte eine rasch dicker werdende Schwellung fest. Blut bildete dunkle Flecken auf der weißen Socke, doch als sich Holly die Haut darunter ansah, bemerkte sie nur Abschürfungen und einige harmlose Kratzer. Es bestand nicht die Gefahr, daß der Knabe verblutete, aber sicher würde er bald heftige Schmerzen verspüren.
»Komm, wir gehen nach draußen«, sagte sie.
Holly wollte den Jungen in die Richtung bringen, aus der sie gekommen war, aber als sie den Kopf drehte, bemerkte sie links einen weiteren Riß im Rumpf, direkt neben dem Cockpitschott, nur zwei oder drei Meter entfernt. Er reichte über die ganze Wand, setzte sich jedoch nicht in der Decke fort. Eine Explosion hatte mehrere Verkleidungsplatten, Isoliermaterial und Verstrebungen zum einen Teil nach innen und zum anderen nach draußen geschleudert. Das dadurch entstandene Loch war gerade groß genug, um Holly und Norby Durchlaß zu gewähren.
Als sie am Rand balancierte, erschien ein Angehöriger der Rettungsmannschaften auf dem gepflügten Feld vier Meter weiter unten. Er streckte die Arme nach dem Jungen aus.
Norby sprang. Der Mann fing ihn auf und taumelte zurück.
Holly stieß sich ebenfalls ab und landete auf den Beinen.
»Sind Sie seine Mutter?« fragte der Mann.
»Nein. Ich habe ihn nur weinen gehört und ihm geholfen. Sein Fuß ist gebrochen.«
»Ich war mit Onkel Frank unterwegs«, sagte Norby.
»Nun gut«, erwiderte der Mann und versuchte, fröhlich zu klingen. »Suchen wir deinen Onkel.«
Der Junge ließ die Schultern hängen. »Er ist tot.«
Der Mann sah Holly an, als erwarte er einen Kommentar von ihr.
Die Journalistin schwieg erschüttert, verzweifelt darüber, daß ein fünfjähriger Junge derartigen Schrecken erleben mußte. Sie wollte Norby umarmen, ihn fest an sich drücken, ihm versprechen, daß mit der Welt alles wieder in Ordnung kam.
Aber die Welt ist eben nicht in Ordnung, dachte sie. Weil der Tod zu ihr gehört. Adam mißachtete den Willen Gottes und ließ sich dazu hinreißen, den Apfel zu essen, die Frucht des Wissens. Woraufhin der Allmächtige beschloß, ihm verschiedene Dinge zu zeigen, das Licht ebenso wie die Finsternis. Adams Kinder lernten, zu jagen, den Boden zu bestellen, sich vor der Kälte des Winters zu schützen, das Essen mit der Hitze des Feuers zuzubereiten, Werkzeuge herzustellen und Hütten zu bauen. Gott wollte ihnen eine vielseitige Bildung gönnen, machte sie mit einer Million Möglichkeiten vertraut, zu leiden und zu sterben. Er ermutigte sie, Sprachen zu lernen, Schreiben und Lesen, Biologie, Chemie, Physik, die Geheimnisse des genetischen Codes. Und er setzte sie dem Entsetzen von Gehirntumoren, Muskeldystrophie, Beulenpest, wucherndem Krebs - und von Flugzeugunglücken aus. Man wollte Erleuchtung und Wissen? Oh, Gott ist gern bereit, alle entsprechenden Wünsche zu erfüllen. Er ist ein hingebungsvoller Lehrer, der seinen Schülern alles beibringt, ihnen das Wissen mit so vielen exotischen Details aufbürdet, daß sie manchmal das Gefühl haben, unter der gewaltigen Last zermalmt zu werden.
Als sich der Mann umdrehte und Norby über den Acker zu einem weißen Krankenwagen auf der Landebahn trug, verwandelte sich Hollys Verzweiflung in Zorn. Es war ein nutzloser Zorn, denn sie konnte ihn nur auf Gott richten, ohne daß sich etwas änderte. Der Allmächtige würde die Menschheit nicht vom Fluch des Todes befreien, nur weil Holly Thorne das Sterben für eine krasse Ungerechtigkeit hielt.
Sie begriff plötzlich, daß sie jene Art von Wut schmeckte, die Jim Ironheart motivierte. Sie erinnerte sich an seine Worte, als sie in Reihe siebzehn miteinander geflüstert, als sie ihn zu überzeugen versucht hatte, nicht nur die Dubroweks zu retten, sondern auch die anderen Passagiere des Fluges 246: »Ich hasse den Tod. Ich hasse es, daß Menschen sterben.« Einige der Personen, die er vor dem Tod bewahrt hatte, berichteten später von ähnlichen Ausrufen. Holly entsann sich in diesem Zusammenhang auch an das Gespräch mit Viola Moreno, die vermutete, der Kummer tief in Ironhearts Herz ginge auf den Umstand zurück, daß er als Zehnjähriger zur Waise geworden war. Er gab die Stellung als Lehrer auf und unterrichtete nicht mehr, weil ihm durch Larry Kakonis’ Selbstmord alle seine Bemühungen sinnlos erschienen. Holly hatte diese Reaktion zunächst für extrem und übertrieben gehalten, aber jetzt verstand sie Ironhearts Beweggründe. Sie verspürte ebenfalls das
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