Die Kälte Des Feuers
hätte, über das nachzudenken, was sich ihren Blicken darbot … dann wäre sie wahrscheinlich übergeschnappt und mit einem hysterischen Kreischen aus dem Wrack geflohen.
Unterwegs begegnete sie mehreren Personen, die man aus den Trümmern hätte befreien müssen und die sofortige medizinische Hilfe benötigten. Aber Holly konnte ihnen nicht helfen: Sie waren entweder zu schwer oder zu sehr eingeklemmt. Außerdem ließ sie sich in erster Linie von dem mitleiderweckenden Weinen leiten, gab einem Instinkt nach, der verlangte, zuerst die Kinder zu retten - eine genetisch programmierte Überlebensversicherung der Natur.
In der Ferne heulten Sirenen, und Holly runzelte die Stirn. Bisher hatte sie überhaupt nicht daran gedacht, daß Rettungsmannschaften unterwegs sein mochten. Nun, es spielte keine Rolle. Sie konnte nicht zurückkehren und darauf warten, daß sich speziell ausgebildete Personen um diese Sache hier kümmerten. Vielleicht bedeuteten zwei oder drei Minuten für das Kind den Unterschied zwischen Leben und Tod.
Holly schob sich weiter. Ab und zu sah sie anämische, aber trotzdem besorgniserregende Flammen im Irrgarten der Verheerung. Nach einer Weile hörte sie Jim Ironheart, der ihren Namen rief; offenbar stand er dort, wo der Bug des Flugzeugs vom Rest der Maschine amputiert worden war. Im Anschluß an das Chaos in der mittleren Sektion der DC-10 war die dichte Rauchwolke an verschiedenen Stellen ausgeströmt, und Holly hatte vergeblich nach Ironheart gesucht. Sie vertraute darauf, daß ihm und Casey keine Gefahr drohte, daß es Jim gelang, dem Schicksal auch in bezug auf sich selbst ein Schnippchen zu schlagen - trotzdem nagte Furcht an ihrer Seele. Deshalb erleichterte es sie, seine Stimme zu hören.
»Hier drin!« rief sie zurück. Die vielen Trümmer hinderten sie daran, einen Blick auf Ironheart zu werfen.
»Was machen Sie da?«
»Ich halte nach einem kleinen Jungen Ausschau«, antwortete sie. »Ich höre seine Stimme und nähere mich ihm langsam, aber ich kann ihn noch nicht sehen.«
»Kommen Sie raus!« brüllte Jim noch lauter, um das Heulen der Sirenen zu übertönen. »Die Rettungsmannschaften treffen gleich ein. Dies fällt in ihren Zuständigkeitsbereich.«
»Hier gibt es Leute, die sofort Hilfe brauchen«, erwiderte Holly und setzte ihren Weg fort.
Sie sah jetzt den vorderen Teil der ErsteKlasse-Sektion. Dort waren die stählernen Rippen des Rumpfes ebenfalls nach innen geknickt, wenn auch nicht ganz so stark wie weiter hinten. Vor dem Cockpit hatten sich losgerissene Sitze, Reisetaschen und kleinere Trümmerstücke gesammelt und bildeten einen hohen Haufen, zu dem auch Tote und Verletzte gehörten.
Als Holly einen leeren Sessel beiseite schob und kurz innehielt, um nach Luft zu schnappen, hörte sie, wie Jim hinter ihr ins Wrack kletterte.
Die Journalistin rollte auf die Seite, schob sic h durch eine schmale Lücke, hinter der es etwas mehr Platz gab - und starrte in das Gesicht des Jungen, dessen Weinen sie gehört hatte. Er mochte etwa fünf Jahre alt sein, und in seinem Gesicht fielen enorm große dunkle Augen auf. Er blinzelte verwirrt und unterdrückte ein Schluchzen; vielleicht hatte er gar nicht mehr damit gerechnet, daß jemand kam, um ihm zu helfen.
Der Knabe lag unter mehreren umgekippten Sesseln in einem zeltartigen, sich nach oben hin verjüngenden Bereich, dessen >Wände< ebenfalls aus Sitzen bestanden. Er lag auf dem Bauch und erweckte den Eindruck, als sollte es ihm nicht weiter schwerfallen, ins Freie zu kriechen.
»Irgend etwas hält mich am Fuß fest«, sagte er. Der Junge fürchtete sich noch immer, schien sich jedoch nicht von der Angst beherrschen zu lassen. Den größten Teil seines Entsetzens überwand er in dem Augenblick, als er Holly sah. Ganz gleich, ob man den fünften oder fünfzigsten Geburtstag hinter sich hatte - am schlimmsten war es, allein zu sein. »Es hält den Fuß fest, läßt ihn nicht los.«
Die Journalistin hustete kurz. »Ich hole dich da raus. Verlaß dich drauf.«
Sie hob den Kopf und bemerkte weitere Sitze, in die Sessel darunter verkeilt. Einige aus der herabgewölbten Decke ragenden Stahlstreben blockierten die Barriere; Holly fragte sich, ob dieser Teil des Flugzeugs übers Feld gerollt war, bevor er mit der rechten Seite nach oben liegengeblieben war.
Mit den Fingerspitzen strich sie dem Jungen einige Tränen von den Wangen. »Wie heißt du?«
»Norwood. Die anderen Kinder nennen mich Norby. Es tut nicht weh. Der Fuß meine
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