Die Kälte in dir (German Edition)
hatte.
Plötzlich hatte er es, zupfte daran und hörte es reißen. Was er herausfischte, war nur ein gutes Drittel des Prospektes.
Paolos Pizzaservice, Welzheim.
Es war der grün-rot bedruckte Reklamezettel, der ihm beim Kontrollbesuch ins Auge gefallen war. Damals hatte das Sammelwerk kulinarischer Genüsse noch oben aus dem Briefkastenschlitz herausgeschaut. Nur flüchtig hineingesteckt, schnell, im Vorbeigehen.
Aber warum?
Daniel konnte annehmen, dass Paolos Pizzas einen maßgeblichen Beitrag zu Egon Osswalds Übergewicht geleistet hatten. Doch allen in der Umgebung, selbst Paolo, sollte doch zu Ohren gekommen sein, dass hier niemand mehr existierte, der belegte Hefeteigfladen bestellen konnte. Warum also machte der Pizzalieferant sich die Mühe, diesen endlosen Waldweg hochzukarren, um seine Werbung hier einzuwerfen?
Daniel kehrte um und stieg wieder in den Wagen. Die Adresse des Lieferanten stand unter der Überschrift.
Die Pizzeria war in einer kleinen Eckkneipe untergebracht, die vor der Internationalisierung eine schwäbische Beiz gewesen sein musste und wenig geeignet dafür war, italienisches Flair zu versprühen. Zumal das Inventar bedenkenlos übernommen worden war. Glaubte man dem Anschlag neben der Tür, hieß Paolo eigentlich Eugen Kussmaul. Selbst das grün-weiß-rot gehaltene Schild über dem Eingang und die Olivenölkännchen auf den fünf Wirtshaustischen vermochten keine auch nur annähernd mediterrane Stimmung heraufzubeschwören.
Es war niemand in der Gaststube. Die Mittagszeit war vorbei, zum Abendessen war es zu früh. Womit hatte Daniel gerechnet? Er vermutete, dass selbst der Pizzaofen zwischenzeitlich ausgekühlt war, was sein Magen mit einem bedauernden lauten Knurren kommentierte.
Ein Knurren, das einen Mann aus einer Tür hinter der Theke lockte, der weder nach Paolo noch nach Eugen aussah. Der kleine, rundliche Mann mit dem dunklen Teint hatte eine Schürze umgebunden und wies Mehlstaubflecken auf, die sich willkürlich auf seinem Hemd, dem kohlrabenschwarzen Haar und den nackten Unterarmen verteilten.
»Ist der Chef da?«, fragte Daniel und hielt seinen Dienstausweis hoch.
»Chef nicht da!«, erklärte der Mann, wobei er mit dem Kopf nickte.
Eine widersprüchliche Geste.
Daniel holte den abgerissenen Prospekt aus der Hosentasche. »Wer verteilt die?«
Der Mann rollte mit den Augen, als würde ihm in dieser Sekunde erst bewusst, dass Daniel nicht vorhatte, etwas zu essen zu bestellen. Er wischte seine Mehlfinger an der Schürze ab.
»Kommt mit Pizza, oder Ravi macht Runde mit Briefkasten stecken«, erläuterte er in einem Singsang.
Anscheinend war die Nachricht vom Tod des besten Kunden doch noch nicht bis ins indisch-italienische Viertel Welzheims vorgedrungen.
Den Weg kann sich dein Ravi künftig sparen.
Daniel fragte, ob der Ausfahrer zu sprechen sei.
»Hat heute frei. Ist Bollywood-Festival in Stuttgart. Kommt echtes Elefant zu danken Ganesha für heißen Sommer, was macht indische Frauen empfänglich für Liebe. Du verstehen?«
Und du musst in diesem Kaff Pizzas backen, statt von der Sonne aufgeheizte Mädels aufzureißen.
Daniel winkte ab. »Wann haben Sie zuletzt etwas an Egon Osswald geliefert?«, fragte er.
»Wer ist das?«, fragte der Mann, der die Nick- und Schaukelbewegungen seines Kopfes nun nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen schien.
»Die große Villa, oben im Wald. Ihre Speisekarte steckte im Briefkasten.«
Der Pizzabäcker hob die Brauen. »Ah! Dicker Mann! Lohnt immer. Hat bestellt, ja, ja«, erklärte er. »Oft hat bestellt und viel, aber nie Trinkgeld!«
»Wann zuletzt?«, startete Daniel einen zweiten Versuch.
»Diese Woche vielleicht«, bekam er zu hören. Und dann, nach drei Sekunden: »Mittwoch!«
»Ganz sicher?«
»Ravi hat geliefert, ganz sicher. Und …« Der Inder sah sich um, als erwarte er einen seiner tausend Götter hinter sich auftauchen. Denjenigen, der für das Ausplaudern von Geheimnissen, oder besser noch, für Wunder zuständig war. »Hat Trinkgeld bekommen, diesmal, heilig’ Blechle!«
Heiliges Pizzablechle
, dachte Daniel auf dem Weg zurück zum Wagen. Da musste der Geizkragen Egon Osswald erst das Zeitliche segnen, bevor er sich dazu herabließ, dem Pizzalieferanten ein Trinkgeld zu geben. Der Ebenezer Scrooge aus dem Schwäbischen Wald, selbst zum Geist geworden, gönnte sich noch mal eine scharfe Diavolo mit extra Käse und Kapern. Ideal für jemanden, der eine Menge Kalorien zu sich nehmen musste.
Zu dumm, dass
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