Die Kälte in dir (German Edition)
Haus war nie wirklich still. Das Material um ihn herum arbeitete, wie man so schön sagt. Holz und Steine rieben aneinander, schabten sich gegenseitig Molekülschicht um Molekülschicht ab, die als feiner Staub aus allen Ritzen rieselte. Draußen pfiff der Wind eine Disharmonie über die Dachrinne hinweg.
Nichts von alldem konnte ihn davon abhalten, den Raum zu durchqueren. Er fand einen Lichtschalter, einen dieser alten, die man drehen musste, und der brachte eine Glühlampe zum Leuchten, die den Gang mit ihrem gelben Schein erhellte. Warm und einladend.
Trügerisch.
Ausreichend, um den Treppenaufgang zu erkennen, der am anderen Ende des Flurs lag. Obwohl Daniels Verstand Einwände dagegen vorbrachte, bewegte er sich instinktiv darauf zu. Er dachte an den Schrein, der hier unten irgendwo sein musste. Der Raum mit den Todesanzeigen. Die Kriminaltechniker hatten die Nachrufe von der Wand genommen und fein säuberlich eingetütet. Es gab nichts mehr zu sehen, beruhigte er sich. Aber er hatte vorerst keineswegs die Absicht, eine der Türen zu öffnen, die von dem Gang abzweigten.
Dann war er an der Treppe.
Oben war es stickig. Hitze füllte die Räume. Die Polizei hatte sie hereingelassen, während sie alles durchsuchte, und nicht wieder mitgenommen. Ein seltsamer Gedanke. Daniel sollte nicht hier sein, schon gar nicht allein.
War er das denn? Allein?
Der Zweifel war plötzlich übermächtig. Ravi hat vorgestern Pizza hierher geliefert.
Daniel konnte von hier aus telefonieren, kam ihm in den Sinn. Und dass er richtig tief in der Scheiße steckte, wenn er Kristina anrief und beichtete, wo er sich aufhielt. Es half alles nichts, da musste er durch.
Zehn Sekunden später stand er im Büro, und was er zu sehen bekam, ließ ihn vergessen, wonach er gesucht hatte.
18
Kristina probierte zum dritten Mal, Daniel auf dem Handy zu erreichen, während sie erneut runter in die Kriminaltechnik wetzte. Sampo war allein in seinem Labor.
»Ist er aufgetaucht?«, fragte sie ihn.
»Bei mir nicht.«
»Scheiße!«, fluchte sie.
»Hat er sich wieder einbetonieren lassen?« Sampo erkannte, dass sie keineswegs zu Scherzen aufgelegt war, und entschuldigte sich mit gesenktem Blick. »Musst du los, soll ich dich fahren?«, bot er an.
»Ich weiß nicht, wohin und vor allem, ob es nicht erneut zu spät ist«, antwortete sie.
»Sprechen wir jetzt von der Suche nach Daniel oder von der nach Bruno Schwarz?«, wollte er wissen.
Sie fuhr sich mit beiden Händen ins Haar und zwirbelte den Schopf zu einem Zopf zusammen. Wieder beschlich sie das Gefühl, dass Daniel ihr bei der Jagd nach dem Remstalschlächter in mancher Hinsicht einen Schritt voraus war. »Könnte sein, dass das keinen Unterschied macht«, orakelte sie. »Finden wir den einen, haben wir vielleicht auch den anderen.«
Das Büro war verwüstet. In einer Form, die Daniel innerhalb eines Sekundenbruchteils erkennen ließ, dass dafür nicht die Kriminaltechnik verantwortlich war. Beinahe sämtliche Bücher waren aus den Regalen gerissen und auf dem Parkettboden verstreut. Ebenso die Musik- CD s und die Stereoanlage, die mit großer Wut zerschmettert worden war und nun ihr elektronisches Innenleben zur Schau stellte. Die Schubladen des Schreibtischs waren herausgerissen und darüber entleert worden. Der Inhalt türmte sich als Berg von Papieren und Büroutensilien auf der polierten Auflage. Weitere Blätter lagen darum verstreut. Der Stuhl lag in der Ecke und streckte ihm seine verschnörkelten Beine entgegen.
Daniel blickte über die Schulter, aber es war niemand hinter ihm. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er entdeckte das Telefon, das mit erschreckender Endgültigkeit in mehrere Teile zertreten worden war. Sicher gab es irgendwo im Haus noch einen weiteren Apparat. Sehr wahrscheinlich oben im Schlafzimmer.
Er musste sich nicht fragen, wer die Pizza bestellt oder diese Verwüstung angerichtet hatte. Wesentlich interessanter war es, zu erfahren, wonach in diesem Büro gesucht worden war. Der Grad der Zerstörung deutete darauf hin, dass das Begehrte nicht gefunden worden war und deshalb alles, was im Weg stand, daran hatte glauben müssen. Der Täter war von den Ermittlern bislang stets als besonnen und umsichtig beschrieben worden, doch diesmal hatte der Zorn ihn überwältigt.
Er verliert die Kontrolle über die Bestie in seinem Inneren!
Dr. Lorenz’ Worte hallten in Daniels Ohren.
Das Gehirn wird angegriffen, das Handeln gegebenenfalls irrational beeinflusst.
Der
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