Die Kaempferin
flatternden Bannern schuf einen Schemen schillernder Farben, der sich vom weißen und grauen Stein der Gebäude und Straßen abhob. Als wir zu den Toren traten, wo die Gardisten Amenkors die vorbeiziehende Streitmacht beobachteten, schwoll das Geräusch der Tausenden Füße an, die im Gleichschritt auf die Steinplatten pochten. Rang um Rang um Rang, eine ganze Phalanx.
Dann waren die Soldaten verschwunden, und die Rücken der Nachhut verloren sich in der Ferne. Staub stieg hinter ihnen auf und setzte sich langsam wieder.
»Anscheinend meint Fürst March ernst, was er gesagt hat.« Ich wandte mich Keven zu, als die Gardisten am Tor sich entspannten. »Venitte bereitet sich auf einen Krieg vor.«
»Halte das, Ilya.«
Die Begabte vor mir streckte zweifelnd die Hand aus, und ich ließ den runden Stein hineinfallen.
Sie sog scharf die Luft ein, und ihre Augen weiteten sich.
»Was fühlst du?«, fragte ich.
Zitternd erwiderte Ilya: »Ich fühle … Macht, Meister Cerrin. Als wäre ich mit den anderen Begabten verbunden, nur ohne Leitungen.«
Ich lächelte. »Gut. Halte den Stein eine Weile fest.«
Ilya nickte.
Ich brachte die Sicht zum Einsatz und spürte den Stein wie eine Präsenz, die irgendwie dichter, wirklicher war als die ihn umgebenden Gegenstände. Und er zog mich an wie ein Strudel, zerrte an mir.
Ich schloss die Augen und ließ mich in diesen Strudel fallen.
Das Gefühl war seltsam, als stünde ich einen Moment an einem Abgrund und blickte über eine weite Landschaft. Etwas hielt mich zurück, ein dünner Schleier, der einfach zu durchdringen war, nicht mehr als ein lästiges Ärgernis, ähnlich einem Spinnennetz. Ich wischte es beiseite … und sprang.
Dann befand ich mich im Stein. Die Beschaffenheit und der Geruch von Fels – körnig und rau – umgaben mich. Ich spürte sein Pulsieren. Dann erkannte ich, dass nicht der Stein pulsierte, sondern Ilyas Blut durch ihren Körper. Es war ein heißes Pochen, das im Stein widerhallte, den sie hielt. Und mehr noch: Ich konnte sie spüren, als hätte der Stein – oder das, was ich mit ihm gemacht hatte – ein Feld um sich erschaffen, das die Begabte wahrnahm.
Vorsichtig erkundete ich das Feld, streckte mich aus dem Herzen des Steins hervor und bemerkte, dass der Puls der Begabten schneller ging. Ich konnte den Schweiß fühlen, der ihre Handfläche rutschig werden ließ, und ihr wild pochendes Herz.
Dann tauchte ich in ihren Geist.
Durch ihre Augen sah ich mich selbst zusammengesunken auf dem Stuhl hinter meinem von Mitschriften und sonstigen Gegenständen übersäten Schreibpult. Mein Kopf hing schlaff nach hinten, meine Arme baumelten über die seitlichen Holzlehnen, als wäre ich bewusstlos geschlagen und auf den Stuhl geworfen worden. Bitter wie Asche schmeckte ich Ilyas Angst und spürte ihre Unentschlossenheit. Sie wollte loseilen, um herauszufinden, was geschehen war, doch ihre Ehrfurcht hielt sie zurück. Immerhin war ich ein Meister, einer der Sieben. Sie wagte nicht, mir so nahe zu kommen.
Allerdings wirkte meine zusammengesunkene Haltung nicht natürlich.
Ich trat einen Schritt vor und beugte mich näher. Ich glaubte nicht, dass ich atmete.
Taumelnd wich ich zurück und erkannte, dass meine Persönlichkeitund jene Ilyas einen Augenblick lang irgendwie miteinander verschmolzen waren. Ich hatte angefangen, mich mit ihr zu verwechseln, tatsächlich sie zu werden ; ich war mit ihrem Körper, ihrem Fleisch und ihren Sinnen vorgetreten.
Ich schauderte. Gleichzeitig zog Ilya sich zurück. Verwirrung rötete ihre Züge. Ihr Blick zuckte unsicher durch den Raum. Sie hatte nicht vorgehabt, diesen Schritt vorzutreten, und sie erinnerte sich nicht daran, es getan zu haben. Ihr Griff um den Stein verstärkte sich, ihr Puls schnellte noch höher. Sie stand kurz davor, die Flucht zu ergreifen und Hilfe zu holen …
Nicht. Es ist alles gut, Ilya.
Sie schrie auf und ließ den Stein fallen. Meine Verbindung zu ihr wurde so schlagartig getrennt, als hätte sie mich mit einem Messer von sich losgeschnitten. Aber es war kein sauberer Schnitt. Ein paar hartnäckige Fäden verbanden den Stein weiterhin mit ihr, als sie flüchtete. Durch diese Fäden konnte ich ihre Panik, das durch ihren Körper rasende Adrenalin spüren und ihren keuchenden Atem hören.
Ich musterte die Fäden einen Augenblick und spielte mit dem Gedanken, die Verbindung zu belassen. Offensichtlich hatte sie mich irgendwie durch den Stein gehört. Vielleicht brauchte sie ihn gar nicht
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