Die Kaempferin
Ende des Sofas sinken. »Was für eine Art Kuss war es denn?«
Plötzlich fühlte ich mich unbehaglich und antwortete unsicher: »Nun ja … freundschaftlich.« Am Siel gab es nur zwei Arten von Küssen: grobe und tödliche. Die groben endeten für gewöhnlich in Vergewaltigung, die tödlichen mit dem Blut entweder des Mannes oder der Frau. Am Siel gab es keinen Unterschied zwischen Vergewaltigung und Tod.
Doch so war jener Kuss nicht gewesen. Jener Kuss – sogar der flüchtige Kuss in der Gildenhalle – war anders gewesen. Allein der Gedanke daran erfüllte mich mit einem wohligen Schauder.
Marielle runzelte enttäuscht die Stirn. »Ich glaube kaum, dass William es so aufgefasst hat. Außerdem habt Ihr seit dem Angriff viel Zeit mit ihm verbracht. Hier im Palast, draußen in der Stadt und in der Gildenhalle. Jeder in Amenkor redet davon.«
»Ich sehe immer noch nicht ein, warum ich nicht neugierig auf mehr als einen Menschen sein darf«, stieß ich hervor und zog mich im Zorn zurück. »Was geht es William an, wenn ich mit Brandan rede? Ich kann reden, mit wem ich will – und ich kann küssen, wen ich will!«
Marielle schüttelte den Kopf. »Über Männer muss ich Euch noch viel beibringen.«
»Glaub mir, ich weiß über Männer Bescheid. Ich bin in den Elendsvierteln aufgewachsen.«
»Oh, da gibt es viel mehr zu wissen als das .«
Es klopfte an der Tür zur Vorkammer, und ein Gardist beugte sich zu uns herein. »Der Oberhofmarschall der Regentin ist hier und wünscht, Euch zu sehen«, verkündete er.
»Lass ihn herein«, sagte ich ein wenig zu hastig.
Avrell betrat den Raum. »Habt Ihr Westen erreicht? Wo ist er? Was geht vor sich?«
Als er sich setzte, griff Marielle nach dem benutzten Tablett und warf mir einen letzten, bedeutungsvollen Blick zu, bevor sie ging.
Zu wissen, dass Marielle und alle anderen im Palast über mich und William redeten, war eine Sache. Aber zu erfahren, dass es der ganzen Stadt aufgefallen war und dass man vermutlich in diesem Augenblick über mich sprach …
Ich seufzte. »Ich habe Westen erreicht. Er hat die Besatzung der Preis nördlich von Temall an Land gehen lassen. Es siehtnicht so aus, als hätten die Chorl Temall bereits angegriffen. Morgen wird er nach Süden vorrücken.«
»Gut. Im Augenblick stellt Temall unser Polster im Süden dar. Die Chorl werden die Stadt einnehmen müssen, bevor sie einen wirksamen Angriff auf Amenkor über den Landweg aus dieser Richtung unternehmen können.« Er legte eine Pause ein. »Westen hat ein paar Tage länger als erwartet gebraucht, um dorthin zu gelangen.«
»Er musste vorsichtig sein, um mit keinen Chorl-Schiffen zusammenzustoßen«, erwiderte ich.
»Stimmt. Aber wir müssen wissen, wo sich die Chorl befinden und wohin sie unterwegs sind. Je eher wir es erfahren, desto besser.«
Ich lehnte mich schwer auf das Sofa zurück und schloss die Augen. Jeder Schmerz und jeder Muskel in meinem Körper machten sich bemerkbar. »Gibt es sonst noch etwas, Avrell? Es ist spät, und ich bin erschöpft.«
Avrell zögerte. »Ihr habt mich ersucht, Nachforschungen in den Archiven anzustellen … über die Throne.«
Jäh setzte ich mich auf. »Wisst Ihr, wo der zweite Thron ist? Was habt Ihr herausgefunden?«
Er verzog das Gesicht. »Nicht viel. Es gibt zwar Aufzeichnungen aus der Zeit, bevor der Geisterthron in die Stadt gebracht wurde, aber sie sind unvollständig. Einige Unterlagen gingen durch Feuer oder Hochwasser verloren. Manche sind durch ihr Alter zu Staub zerfallen, obwohl wir versuchen, ältere Dokumente abzuschreiben, wenn sie erste Anzeichen von Verfall aufweisen.« Er stand auf und ging vor dem Sofa auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Die Aufzeichnungen aus jener Zeit, die überlebt haben, behandeln vorwiegend den Geisterthron selbst, nicht dessen Gegenstück. Aber sie erwähnen einen zweiten Thron.«
»Wo?«
Er hielt inne und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Anscheinendwurden die beiden Throne vom Rat der Sieben in Venitte erschaffen.«
Ich nickte. »Ja, die Sieben Adepten. Ich war sozusagen dabei, als sie die beiden Throne angefertigt haben. Ich war dabei, als sie starben.«
»Genau darin besteht das Problem«, sagte Avrell. »Sie alle starben, als sie die Throne erschufen, und sie haben keine besonders ausführlichen Anweisungen hinterlassen, was mit den Thronen zu tun sei oder wie man sie verwendet.«
»Weil sie nicht damit gerechnet haben, bei ihrer Erschaffung zu sterben.«
»Ja.
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