Die Kaempferin
ihn auch nur anzuheben. Und nicht jeder kann ihn berühren, nur diejenigen, die über die Sicht verfügen. Wie konnte er transportiert werden?«
Avrell rollte das Pergament behutsam wieder ein. »Ich weiß es nicht. Aber es ist ihnen ja auch gelungen, den Geisterthron auf ein Schiff und nach Amenkor zu verfrachten, deshalb …« Er zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls, auf dem Höhepunkt der politischen Machtkämpfe in Venitte konnte man sich nachts nicht mehr auf die Straßen wagen. Der Steinthron verschwand von seinem Platz mitten in der Hauptkammer des Rates der Sieben – und Tyrrone verschwand mit ihm. Niemand hat beobachtet, wie der Thron weggebracht wurde, und niemand sah Tyrrone danach je wieder. Die Kammer selbst wurde von den verbliebenen Begabten versiegelt.«
»Hat niemand nach dem Thron gesucht?«
Avrell schnaubte. » Jeder hat danach gesucht. Immerhin war er der Schlüssel zum Schutz vor den Chorl! Zumindest dachte man das damals. Aber vergesst nicht – es war gerade erst gelungen, den Chorl-Angriff abzuwehren, man steckte mitten in einer politischen Umwälzung, wie man sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte, und der Winter stand bevor. Man konnte es sich nicht leisten, zu viel Kraft dafür aufzuwenden, nach dem Thron zu suchen, zumal jeder Fürst und jede Fürstin eigene Anwesen, Menschen und Macht besaß, die es zu beschützen galt. Durch den Tod der Sieben entstand ein riesiges Machtloch, und Venitte stürzte für viele Jahre in Wirren, ehe die Stadt sich mit der Einführung des Rates der Acht als Ersatz für die Adepten wieder festigen konnte. Andere Städte wie Amenkor litten nicht so sehr unter der plötzlichen Abwesenheit der Sieben. Wir hatten damals bereits unseren eigenen Rat, der den Sieben Bericht erstattete, wenn sich etwas Bedeutsames ereignete, das die gesamte Küste betraf.«
Ich sank zurück aufs Sofa. »Also ist der andere Thron verloren. Wir können ihn nicht einsetzen, um uns gegen die Begabten der Chorl zu verteidigen. Wir können ihn nicht verwenden, um den Geisterthron zu ersetzen.« Der Hoffnungsschimmer, den ich in mir geschürt hatte, seit Eryn die Möglichkeit eines zweiten Thrones aufgeworfen hatte, flackerte und erlosch.
Mit nachdenklicher Miene steckte Avrell die Schriftrolle zurück in seine Tasche. »Das habe ich nicht gesagt.«
Ich starrte ihn eindringlich an. »Aber Ihr sagtet …«
»Ich sagte, dass der Thron verschwunden ist. Ich glaube allerdings nicht, dass er verloren ist. In den Archiven finden sich zu viele Hinweise, zu viele verschwommene Andeutungen darauf, was aus dem Thron geworden sein könnte, um davon auszugehen, dass er endgültig verschwunden ist.«
Ich spürte, dass mir der lange Tag Tribut abverlangte, und fragte ungeduldig: »Wo ist er dann?«
Avrell holte tief Luft und blies sie langsam aus. »Ich habe zwar keine handfesten Beweise, aber ich denke, er befindet sich immer noch in Venitte.«
»Das würde Sinn ergeben«, meinte Eryn.
Wir standen mitten im Thronsaal und schauten beide den offenen Gang entlang zum Podium mit dem unnatürlich leblosen Thron. Ich hatte Eryn berichtet, was Avrell mir vor ein paar Tagen über seine Suche nach dem zweiten Thron in den Archiven erzählt hatte.
»Es würde Sinn ergeben? Wieso?«
»Wegen dem, was du gesagt hast: Der Thron ist schwer. Es bedürfte gewaltiger Anstrengungen und genauester Planung, um ihn zu transportieren. Und das bedeutet, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht weit befördert wurde. Man ging schon ein riesiges Wagnis ein, ihn überhaupt zu bewegen, weil jeder, der ihn berührte, von seiner Macht hätte überwältigt werden können – auch damals schon, obwohl zu dem Zeitpunkt höchstens ein Dutzend, wahrscheinlich nicht mehr als acht Persönlichkeiten im Thron schlummerten. Den Geisterthron nach Amenkor zu schaffen muss ein gewaltiges Unterfangen gewesen sein. Vergiss nicht – die Sieben Adepten waren die mächtigsten Männer und Frauen ihrer Zeit. Niemand konnte die Sicht so gut beherrschen und beeinflussen wie sie. Aber es gab andere, die sich der Sicht ebenfalls bedienen konnten, genau wie wir – diejenigen, die man früher schon die Begabten nannte. Sie waren die Erben des Thrones. Vielleicht …«
Unvermittelt wurde Eryn von einem Hustenanfall unterbrochen. Sie streckte die Hand aus, packte meine Schulter, beugte sich vor und hustete in die andere Hand. Das Geräusch hörte sich qualvoll an. Ich packte ihren Oberarm, um sie zu stützen, bis sie schließlich flach
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