Die Kaempferin
langsamer wurden, schüttelte Eryn den Kopf, und ich erblickte Tränen in ihrem Gesicht.
Avrell hob die Hand, und mit einer Zärtlichkeit, die mir ein Kribbeln über die Haut jagte, legte er sie an ihre Wange und wischte die Feuchtigkeit mit dem Daumen ab. Eryn lächelte; der Widerspruch von Tränen und Glück war schrecklich und wunderschön zugleich anzusehen.
Avrell beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. Als sie in sein Gesicht blickte, küsste er sie auf die Lippen.
Plötzlich musste ich an die Zeit hier im Palast denken, als Eryn noch vom Thron gefangen gewesen war. Ich dachte daran, wie sie und Avrell sich im vergangenen Winter angeregt unterhalten hatten, während wir nach den Vorräten suchten, die Eryn über die Stadt verteilt versteckt zu haben glaubte. Sie hatten über Skandale, Klatsch und Tratsch geredet. Und ich erinnerte mich, bei den beiden gewesen zu sein, als sie auf der Palastmauer standen, während die Chorl durch die soeben aufgebrochenen Tore strömten. Beide waren verwundet gewesen; rings um sie hatte Stein gebröckelt, und die Welt schien über ihnen einzustürzen.
Damals hatten sie aneinander gedacht.
Zu der Zeit hatte ich es nicht bemerkt.
Nun aber blitzten hundert kleine Gesten – eine tröstlicheHandbewegung hier, ein unscheinbares Nicken oder Lächeln da – durch meine Gedanken. Hundert kleine Gesten, die schlagartig eine völlig neue Bedeutung annahmen.
Und nun würde Avrell mich nach Venitte begleiten, während Eryn hierblieb.
Eryn hustete. Es war ein schmerzlich anzuhörendes Geräusch. Sie hob ein Tuch an die Lippen, während Avrell ihre Schulter stützte. Seine Miene wirkte gequält, als der Anfall schlimmer wurde und Eryn sich dagegen wehrte.
Plötzlich erschien mir der Augenblick zu persönlich, um von mir oder sonst jemandem beobachtet zu werden.
»Keven«, sagte ich und bog ab, doch er lenkte mich bereits auf einen der Bogendurchgänge zu, die vom Hauptgang abzweigten, führte mich hindurch und in den Raum dahinter. Die Gardisten meiner Eskorte folgten uns, bevor Eryn oder Avrell uns bemerkten.
»Wie lange schon?«, fragte ich, als der sengende Knoten in meiner Brust sich löste, sodass ich wieder atmen konnte.
Mit unglücklicher Miene sah Keven mich an, während wir weitergingen. »Mit Unterbrechungen seit Jahren.«
Ich dachte daran, wie ich Avrell verdächtigt hatte, dass er darauf hoffe, ich würde Eryn töten, um den Thron an sich reißen zu können. Nun erkannte ich, welchen Schmerz es ihm bereitet haben musste, mit anzusehen, wie Eryn in Wahnsinn versank, bis er zu dem Schluss gelangt war, dass die einzige Möglichkeit, ihr zu helfen, darin bestand, sie zu töten.
»Wir sind da, Regentin.«
Ich schaute auf und stellte fest, dass wir in der Nähe des inneren Durchgangs zum Hauptgang zurückgekehrt waren und vor der Tür zu Ericks Zimmer standen.
Ich holte Luft und hörte überrascht, wie mir der Atem stockte. Dann trat ich ein, gefolgt von Keven.
In dem Raum stank es nach schalem Schweiß und Krankheit, nach einem Körper, der zu lange regungslos dagelegen hatte. Ichwollte gerade befehlen, die Fenster zu öffnen, als ich erkannte, das sie bereits offen waren und dass der Gestank vom Fluss stammte.
Ich kannte den Geruch vom Siel, und er krampfte mir die Eingeweide zusammen. Es war der Gestank von Trostlosigkeit, von verlorener Hoffnung.
Von Tod.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers schaute Isaiah von seinem Schreibpult auf. Sein Gesicht war verhärmt, und er wirkte erschöpft. »Es hat sich nichts geändert.«
»Ich weiß«, gab ich zurück, durchquerte den Raum und zog einen Stuhl neben Ericks Bett. Ich streckte den Arm aus und hätte beinahe seine Hand in die meine genommen, erinnerte mich jedoch rechtzeitig an die unsichtbaren Nadeln, die sein Fleisch bei der Berührung durchdringen würden.
Ich zog mich zurück und blinzelte die Tränen fort, die sich in meinen Augenwinkeln gebildet hatten.
»Keven.« Meine Stimme war rau und belegt. »Hol Marielle. Lass sie mit Trielles Hilfe Ottul herbringen.«
Ich fühlte, wie er zögerte, und spürte Isaiahs Missbilligung.
»Seid Ihr sicher?«, fragte Keven.
Ich nickte. »Ich weiß nicht, was wir sonst noch tun können. Wir haben lange genug gewartet.«
Keven erwiderte nichts, sondern ging zur Tür, sprach mit den Gardisten draußen und kehrte zurück. Ich spürte ihn hinter mir und konnte fühlen, wie Isaiah sich vom Bett entfernte, um sich wieder zu seinem Schreibpult zu begeben. Ihrer
Weitere Kostenlose Bücher