Die Känguru Chroniken
jetzt fast komplett«, sage ich.
»Mir fehlt noch der Grams«, sagt das Känguru. »Hast du den?«
»Ja. Aber nur einmal. Den gebe ich nicht her. Da ist schwer ranzukommen seit Bad Kleinen.«
Das Känguru kuckt enttäuscht.
»Wir könnten ja zusammenlegen und ein RAF-Quartett-Spiel erstellen mit den Sammelkarten«, schlage ich vor. »Und Mahler als schwarzer Peter.«
»Ich hab was viel Besseres«, sagt das Känguru. »Komm mal mit. Ich zeig dir’s.«
Auf dem Wohnzimmertisch steht ein verhülltes Etwas. Mit einem »Voilà!« reißt das Känguru das Tuch zur Seite.
»Ein selbst geschnitztes Schachspiel …«, sage ich staunend.
»Es ist noch nicht komplett«, sagt das Känguru. »Aber erlaube, dass ich dir die Figuren vorstelle. Zuerst die roten. Hier natürlich Baader und Ensslin als König und Dame. Raspe und Meins als Türme, der Läufer links das ist …«
»Brigitte Mohnhaupt«, sage ich.
»Die Bauern sind dann aus der zweiten und dritten Generation.«
»Klar«, sage ich.
»Ja, der auch«, sagt das Känguru.
»Und die grünen Figuren?«, frage ich.
»Wie du siehst: vorne ’ne Reihe Schupos.«
»In den alten Uniformen von damals«, staune ich.
»Hab mir Mühe gegeben«, sagt das Känguru. »Dann als König …«
»Helmut Schmidt«, sage ich.
»Genau. Und als Dame Horst Herold, Präsident des BKA.«
»Als Dame?«
»Na ja. Ich hab lang überlegt, aber auf der Seite gab’s einfach keine relevanten Frauen. Zu der Zeit gab’s immer nur ’ne Familienministerin.«
»Bezeichnend.«
»Schleyer und Ponto als die Twin Towers«, fährt das Känguru fort. »Als Springer natürlich Axel Springer himself …«
»Und wer ist das?«, frage ich und deute auf eine Spielfigur, die unbenutzt am Spielfeldrand steht. »Ist das Otto Schily?«
»Ja«, sagt das Känguru. »Den hatte ich schon geschnitzt, dann wusste ich aber nicht, auf welche Seite ich ihn stellen soll.«
»Ich freu mich schon, wenn die Actionfiguren zu dem neuen Film rauskommen«, sage ich. »Dann können wir die Todesnacht von Stammheim nachspielen.«
»In ganz verschiedenen Versionen«, sagt das Känguru. »In der offiziellen und der cooleren.«
Runter …
und hoch …
»Spielste schon wieder Jo-Jo?«, fragt das Känguru.
»Seit zwei Stunden«, sage ich.
»Ist das nicht langweilig?«
»Kommt drauf an«, sage ich.
»Auf was?«
»Mit was man es vergleicht.«
»Verstehe«, sagt das Känguru. »Verglichen mit ›ein gutes Buch lesen‹?«
Runter …
und hoch …
»Ziemlich langweilig«, sage ich.
»Im Internet surfen?«
Runter …
und hoch …
»Etwa gleich.«
»Arbeiten gehen?«, fragt das Känguru.
»Besser.«
Runter …
und hoch …
Das Känguru schweigt. Friedlich beobachten wir, wie das Jo-Jo immer wieder hoch und runter läuft.
Runter …
und hoch …
Runter …
und hoch …
»Viele Leute sind unglücklich«, sage ich plötzlich.
Das Känguru nickt.
Runter …
und hoch …
»Weil: Man macht so viele blöde Sachen im Leben«, fahre ich fort. »Und weißte warum?«
Runter …
und hoch …
Das Känguru schüttelt den Kopf.
»Weil uns modernen Menschen die Orientierung fehlt, weil wir kein Wertesystem mehr haben. Wir haben nichts mehr, das uns Halt gibt«, sage ich.
Das Känguru nickt leicht benommen.
Runter …
und hoch …
Runter …
und hoch …
»Deswegen werde ich in meinem Leben jetzt die Jo-Jo-Skala einführen«, sage ich. »Dabei setze ich Jo-Jo-Spielen gleich eins. Man könnte sagen, Jo-Jo-Spielen ist für mich ab sofort der Eichwert, an dem sich alles messen lassen muss.«
Runter …
und hoch …
»Also in etwa … Klavier spielen: 8 Jo-Jos, Steuererklärung machen: 0,1 Jo-Jos.«
Runter …
und hoch …
»Laut Lieder mitsingen, deren Text man nicht wirklichkennt: 4 Jo-Jos. Leuten, die Lieder singen, deren Text sie nicht wirklich kennen, zuhören müssen: 0,5 Jo-Jos.«
Runter …
und hoch …
»Schlafen: 10 Jo-Jos. Software-Lizenzvereinbarungen durchlesen: null Komma Periode null Jo-Jos.«
Runter …
und hoch …
»Nichts tun: 1,01 Jo-Jos. Abspülen: 0,2.«
»Ich hab’s schon beim ersten Beispiel kapiert«, unterbricht mich das Känguru.
Runter …
und hoch …
»Und alles, was auf meiner Skala weniger als einem Jo-Jo entspricht, werde ich einfach nicht mehr machen«, sage ich.
Runter …
und hoch …
Runter …
und hoch …
Runter …
und hoch …
»Darf ich auch mal?«, fragt das Känguru.
»Hier«, sage ich. »Ich hab noch ein
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