Die Kaffeemeisterin
Liebe.
Am liebsten hätte Gabriel das Marktschiff bestiegen, das gerade unter der Brücke hindurchfuhr, und wäre erst den Main abwärts bis nach Mainz und dann den Rhein aufwärts bis nach Ba sel gefahren. Von dort aus hätte er zu Pferd oder mit der Postkutsche die Alpen überquert, um nach Italien zu gelangen. Nach Venedig, wo Johanna gerade war. Aber was nützte es ihm? Wahrscheinlich war sie längst mit diesem Conte verheiratet und lebte mit ihm in einem der hochherrschaftlichen palazzi im oberen Bereich des Canal Grande. Oder sie war gar nicht mehr in der Lagunenstadt. Hatte der Kartenmacher nicht gesagt, dass sie sich nach Konstantinopel aufmachen wollte?
»He, wollt ihr da mitten auf der Straße ein Zelt aufschlagen? Oder könnt ihr vielleicht mal ein Stück zur Seite gehen?«
R achel war wie magisch angezogen bei einem der Tische mit Trödel stehen geblieben, die vor der Pfandleihe von Gideon Schmidt standen. Der Trödler saß höchstpersönlich auf einem Hocker zwischen dem ganzen Plunder und polierte pfeifend einen alten Chanukkaleuchter auf Hochglanz. Neugierig hatte die junge Frau in einer Kiste mit Büchern zu wühlen begonnen und in ihrer Versunkenheit nicht mitbekommen, dass sie den anderen Passanten den Weg versperrte.
Als Gabriel sich zu dem hageren Burschen mit der Sackkarre umdrehte, der schon länger hinter ihnen gewartet zu haben schien, erkannte er den Sohn des Schulkloppers. Jonah Korn musste seinen gichtigen Vater immer öfter bei dessen morgendlichem Rundgang durch die Gemeinde vertreten, wenn die Männer durch ein Klopfen an der Haustür zum Gottesdienst gerufen wurden. Das karge Gehalt, das die Gemeinde ihm zahlte, besserte der Junge auf, indem er Einkäufe ins Haus lieferte und Botengänge erledigte.
»Oh, Entschuldigung, Herr Lehrer!«, rief der Junge sogleich verlegen aus, als er Gabriel erkannte.
»Nichts für ungut«, erwiderte dieser freundlich und zupfte Rachel am Ärmel, die nur widerwillig von dem dicken Wälzer in ihren Händen aufsah. »Lassen Sie uns zum Fluss gehen, Fräulein Rachel, sonst wird es zu spät!«
Endlich waren sie am Ufer angelangt. Pflichtbewusst reichte Gabriel Rachel die Hand, um ihr die Böschung hinabzuhelfen. Sie war erstaunlich behände in ihrem langen Faltenrock. Johanna hatte sich weniger geschickt angestellt, erinnerte er sich. Dafür war sie ihm in ihrer Unbeholfenheit so verführerisch erschienen, dass er sie einfach in die Arme hatte nehmen müssen. Im Grunde hatte da schon für ihn festgestanden, dass sie die Frau war, nach der er immer gesucht hatte. Wieso war er nur auf die verfluchte Idee verfallen, mit Rachel ausgerechnet an den Ort zu gehen, an dem er mit Johanna diese glücklichen Momente verbracht hatte? Sie war der einzige Mensch, dem er je sein Versteck gezeigt hatte – das so heimlich ja gar nicht war, weil die Fischer ihn vom Fluss aus sehen und hören konnten. Und Hans und Hetti hatten diesen »Konzertsaal« ja auch unabhängig von ihm entdeckt. Aber trotzdem: Damit hatte der Ort etwas Heiliges für ihn bekommen. Und diese Heiligkeit zerstörte er nun. Wenn sie sich jetzt auch noch auf den Stein setzte, auf dem Johanna gesessen und ihm gelauscht hatte …
Lustlos holte er die Geige aus ihrem Kasten und legte sie ans Kinn. Rachel war stehen geblieben. Als er den Bogen auf die Saiten setzte, hob sie die Hand.
»Halt!«, sagte sie.
Überrascht ließ Gabriel den Bogen sinken.
»Halt?«, fragte er verdutzt.
»Ja, halt!«, wiederholte sie bestimmt.
Ihre Stimme klang längst nicht so monoton, wie er instinktiv erwartet hätte. Sie war warm und ein wenig rau.
»Warum?«
»Du liebst eine andere, oder? Und hast hier unten schon einmal für sie gespielt …«
Das war keine Frage gewesen, eher eine Feststellung. Unglaublich, dass sie so etwas sagte! Wie ein Kind, das einfach mit dem Erstbesten, das ihm durch den Kopf ging, herausplatzte. Als könnte sie sich einfach so über die Schranken des Anstands hinwegsetzen. Ob ihr klar war, dass sie ihn geduzt hatte? Ungläubig schaute Gabriel sie an.
»Ich habe es an deinem Gesicht gesehen. Schon vorhin, als wir Kaffee getrunken haben, wirktest du mit deinen Gedanken ganz woanders. Als hätte dich ein geheimer Zauber befallen. Und jetzt wieder.« Rachel schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass du hier für mich spielst. Es wäre sowieso nicht für mich«, fuhr sie ungerührt fort.
Gabriel nickte wieder. Sie hatte recht; sie wusste ja gar nicht, wie recht sie hatte! Was für ein
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